Erwiderung des Bundesinnenministers Otto Schily (SPD) auf die Rede des Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern Edmund Stoiber (CSU) zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) im Bundesrat

vom 22. März 2002


Otto Schily, Bundesminister des Innern: Herr Ministerpräsident Stoiber, Sie unterstellen dem Gesetz wieder einmal und leider zu Unrecht, es führe notwendigerweise ein Mehr an Zuwanderung herbei. Aber Sie treten den Beweis dafür nicht an.

Ich teile Ihre Auffassung, dass es nicht um Quantitäten, sondern um Qualität des Zuzugs geht. Das heißt, wir müssen bei dem Zuzug von Menschen unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen besser zur Geltung bringen. Dies leistet das Gesetz. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, an welcher Stelle das Mehr eigentlich zu Stande kommt. Natürlich ermöglichen wir auch Zuwanderung, wie es in § 1 steht, den Ministerpräsident Müller zu Recht zitiert hat. Sonst hätten wir in der Tat ein Zuwanderungsverhinderungsgesetz vorgelegt. Das wollten wir nicht.

Es ist ein logischer - Entschuldigung! - Unsinn zu sagen, wir wollen Zuwanderung aus wirtschaftlichen Interessen, aber dann zu erklären, wir wollen sie nicht ermöglichen. Das passt logisch nicht zusammen - bei bestem Willen, Logik zu strapazieren. Wir binden die Arbeitsmigration, die Migration aus wirtschaftlichen Gründen, strikt an einen Arbeitskräftebedarf, den wir aus dem vorhandenen Arbeitskräftepotenzial nicht decken können.

Es hat keinen Sinn, Herr Ministerpräsident Stoiber, dass wir 50.000 Stellen - so in etwa die Schätzung - im Großraum München nicht besetzen, weil wir uns hinter irgendwelchen ideologischen Barrikaden befinden. Dann findet Wirtschaft nicht statt, dann werden keine Sozialabgaben gezahlt, dann werden keine Steuern gezahlt, dann werden auch keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen. Das ist der wirtschaftliche Sachverhalt. Deshalb sind alle Wirtschaftsverbände dafür, diese Dinge so zu regeln, wie wir es vorgeschlagen haben.

Oder wollen Sie die Regelungen hinsichtlich der Selbstständigen beanstanden? Wir haben auf Wunsch der CDU/CSU-Fraktion in den Verhandlungen mit Herrn Bosbach - "Verhandlungen" ist vielleicht ein bisschen euphemistisch ausgedrückt, aber bitte schön - einen 16-Punkte-Katalog zur Kenntnis genommen, in dem stand, wir sollten die Schwelle, ab der wir Selbstständigen einen Aufenthalt ermöglichen, noch etwas schärfer fassen. Das haben wir getan; dies haben wir als Regelbeispiel aufgenommen.

Aber wir brauchen auch Unternehmer aus dem Ausland. Warum sollen wir sie wegschicken? Vielleicht hätten wir Bill Gates, wenn er in einer Garage ein Unternehmen hätte aufmachen wollen, weggeschickt. Sehr klug! Das kann nicht der Sinn vernünftiger Wirtschaftspolitik sein.

Sie müssen dann schon den Beweis antreten, Herr Ministerpräsident Stoiber,

(Dr. Edmund Stoiber [Bayern]: Haben wir ja!)

wo mehr herkommen. Ich sage Ihnen: An bestimmten Stellen werden es auch weniger sein. Denn die Attraktivität von Asylverfahren in Bezug auf den Zuzug in Sozialsysteme wird abnehmen. Wir werden an dieser Stelle weniger haben, und es werden sich weniger Menschen absichtlich einer Ausreiseverpflichtung zu entziehen suchen. Auch da sorgen wir für striktere Vorschriften, damit dem ein Ende gemacht wird. Ich glaube, dass das richtig ist.

Wir sorgen auf der anderen Seite in humanitären Fällen, in denen wir alle sagen, die Betroffenen sollten hier bleiben, wir wollten sie nicht abschieben, für eine Lösung. Wir wollen die 16-jährige pakistanische Jugendliche, die in ihrem Heimatland die Steinigung erwartet, nicht nach Hause schicken. Ihr geben wir einen vernünftigen Aufenthaltsstatus, statt sie auf die Duldung zu verweisen, die sie Monat für Monat erneuern muss. Sie befindet sich in einem ständigen psychischen Ausnahmezustand, weil sie denkt, dass die Duldung irgendwann nicht mehr gewährt wird. Es ist doch vernünftig, dass ein solcher jugendlicher Mensch eine Ausbildung machen und dann einen vernünftigen Beruf ergreifen kann.

Ich könnte Ihnen zahllose Beispiele nennen. Sie werden mir doch von allen Seiten auf meinen Schreibtisch gelegt - nicht nur von SPD-Abgeordneten, sondern auch von CSU- und CDU-Abgeordneten, die sagen: Aber in diesem Fall lassen Sie die Menschen bitte hier!

Nur, wir müssen doch irgendwann einen Entschluss fassen. Ich glaube Ihnen, Herr Ministerpräsident, dass Sie das umtreibt. Aber dann lesen Sie doch bitte das Gesetz! Und dann müssen Sie den Beweis antreten. Ein Vermittlungsverfahren soll das doch nur ins Unendliche hinauszögern.

(Roland Koch [Hessen]: Unsinn!)

Das haben wir über Monate erlebt. Sie haben einen Vorwand nach dem anderen, eine Hürde nach der anderen aufgebaut,

(Erneuter Zuruf Roland Koch [Hessen])

um das Gesetz partout zu verhindern. Das ist keine seriöse Politik, Herr Ministerpräsident Stoiber, wenn ich Ihnen das in allem Freimut sagen darf.

Ich will auf ein Argument von Herrn Professor Biedenkopf eingehen, das ich sehr ernst nehme. Ich bitte um Nachsicht, dass ich darauf - ich habe ziemlich lange geredet - nicht schon eingegangen bin. Über dieses Argument muss man ernsthaft diskutieren. Es geht um die EU-Erweiterung. Dieses Thema haben auch Sie aufgenommen.

Es ist sicherlich richtig, dass wir in Zukunft in einer erweiterten Europäischen Union - wenn wir alle dazu beitragen, dass die Erweiterung zu Stande kommt, ich hoffe auch auf Ihre Unterstützung, Herr Ministerpräsident Stoiber;

(Dr. Edmund Stoiber [Bayern]: Mehr als auf Ihre!)

dann ist es gut; wenn das so ist, dann freuen wir uns darüber - in einem großen Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit leben. So ist die Europäische Union definiert, an der auch andere teilnehmen werden.

Nun wissen wir alle aber - übrigens besteht auch darin Übereinstimmung, jedenfalls zwischen den großen Parteien, soweit ich das weiß -, dass wir, was die Freizügigkeit angeht, Übergangszeiträume benötigen werden, weil wir die Freizügigkeit sozusagen nicht von heute auf morgen herstellen. Ich nehme an, Herr Ministerpräsident Stoiber, damit sind auch Sie einverstanden.

Dazu sagen wir in dem Zuwanderungsgesetz: Gerade Personen aus den Kandidatenländern, die etwa als Arbeitsuchende für offene Stellen in Frage kommen, haben Vorrang in der Abfolge derer, die in Betracht kommen. Dem entsprechen wir. Wir können die Freizügigkeitssperre, die einige Jahre bestehen bleiben wird, dadurch auch etwas flexibler gestalten, als es sonst der Fall wäre.

Im Übrigen, meine Damen und Herren, ist Europa - bei aller Berechtigung des Hinweises auf den großen Raum, auf den großen Markt, der entstehen wird - kein in sich abgeschlossenes Gebilde. Da muss man nur auf die deutsche Wirtschaft schauen, darauf, welche intensiven wirtschaftlichen Beziehungen z. B. zu den Vereinigten Staaten von Amerika bestehen und welchen Umfang der Austausch mit ihnen hat. Ich werde zum Teil auch damit konfrontiert, auf welche Hürden Amerikaner stoßen, wenn sie hierher kommen wollen.

Auch das bitte ich zu beachten. Wenn wir meinen, dass wir ein auf Weltverbundenheit angewiesenes Land sind, dürfen wir uns nicht nur auf den europäischen Raum konzentrieren, sondern müssen uns damit auseinander setzen.

Herr Ministerpräsident Stoiber, eine letzte Bemerkung: Sie haben auf die Pisa-Studie verwiesen; darüber ist sehr häufig diskutiert worden. Ich warne davor, sie überzubewerten. - Herr Ministerpräsident, nehmen Sie das ruhig ernst. - Denn in der Pisa-Studie rangiert ein Land ziemlich an der Spitze der Leistungen, bei dem man sich die Frage stellen muss, ob es wirklich ein Vorbild sein kann, was die Erziehungsmethoden angeht, wenn wir an die Drillmethoden dieses Landes mit einer hohen Selbstmordrate unter Jugendlichen, die diesen Drillmethoden ausgesetzt sind, denken.

Wenn ich mich recht erinnere, hat Herr Ministerpräsident Vogel bei der Beamtentagung in Bad Kissingen Ähnliches gesagt. Also, seien wir vorsichtig mit der Pisa-Studie! Daraus ergeben sich durchaus interessante Erkenntnisse. Ich erinnere an das, was der Bundespräsident dazu gesagt hat: Der wahrscheinlich wichtigste Punkt, den wir zu erörtern haben, ist, wie wir unsere Grundschulbildung gestalten.

In unserem heutigen Zusammenhang haben Sie sicherlich Recht, dass wir, wenn man die Pisa-Studie anschaut, auf die Integrationsarbeit wahrlich mehr Anstrengungen verwenden müssen, als das bisher der Fall war. Deshalb sollten wir mit dem Gesetz, das wir heute beschließen können, den Einstieg in eine vernünftige Integrationspolitik ermöglichen. Das ist das, was ich Ihnen auch nahe bringen will. Ich bin keineswegs der Meinung, dass wir mit dem Gesetz die Frage der Integration vollständig gelöst haben, sondern ich sage: Wir schaffen damit einen Einstieg oder - in Soziologendeutsch, das ich nicht besonders liebe - einen Paradigmenwechsel, der sehr wichtig ist, aber eben nur einen Einstieg bedeuten kann. Ich bin mir sicher, dass uns alle Länder - wenn sie denn, wie ich hoffe, alle konstruktiv daran mitarbeiten - auf diesem Weg begleiten werden, weil ich, was die Notwendigkeit von Integrationspolitik angeht, keine Unterschiede sehe.

Herr Ministerpräsident Stoiber, damit wir konkret und nicht mit Leerformeln miteinander umgehen, sagen Sie mir ganz konkret - ich wäre Ihnen wirklich dankbar; ich fordere Sie hier ausdrücklich auf -, an welcher Stelle im Gesetz

(Dr. Edmund Stoiber [Bayern]: Das wissen Sie doch!)

sich das, was Sie behaupten, findet, dass wir eine quantitativ deutliche Vermehrung von Zuwanderung haben werden. Das müssen Sie dann schon hier vortragen.

(Dr. Edmund Stoiber [Bayern]: Machen wir!)

- Ja, dann tun Sie es! Ich bin gespannt.

 

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Quelle: Bundesrat, Stenographischer Bericht der 774. Sitzung vom 22.03.2002 (Plenarprotokoll 774).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Erwiderung des Bundesinnenministers Otto Schily (SPD) auf die Rede des Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern Edmund Stoiber (CSU) zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) im Bundesrat (22.03.2002), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2002/rede_schily_zuwanderungsgesetz02.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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