Rede der Abgeordneten Christa Lörcher (fraktionslos) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag

vom 1. März 2002[1]


Christa Lörcher (fraktionslos): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! "Die Fragen um Zuwanderung und Integration sind für unser Land von grundsätzlicher Bedeutung"; sie "bedürfen einer umfassenden Regelung". So die Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 11. Juni letzten Jahres. Die "Frankfurter Rundschau" stellt in einem Kommentar vom 26. Januar dieses Jahres unter der Überschrift "Austaktiert" fest:
Die gemeinsame Anfangssilbe hatte einst für eine enge Verbindung gestanden. Zuwanderung hat mit Zukunft zu tun. Mit dieser Einsicht hatte vor einem Jahr eine überfällige Debatte begonnen. Nicht ob, sondern wie wir Einwanderung organisieren, ist eine Schlüsselfrage unserer Gesellschaft. Darüber, nur zur Erinnerung, herrschte schon einmal Konsens.

Diesen Konsens hätte es seit vielen Jahren geben können. In der Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" wird jetzt in der dritten Legislaturperiode in der Arbeitsgruppe Migration/Integration über Daten, Anforderungen und Empfehlungen diskutiert und verhandelt. Anfang 1998 waren wir in vielem weiter als heute; dann kam der damalige Wahlkampf. Politik darf nicht nur bis zur nächsten oder übernächsten Wahl planen, schon gar nicht bei einem solchen Thema. Wir müssen weit darüber hinaus denken und Vorschläge machen. Das hat die Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" getan; dafür meinen herzlichen Dank.

Bei der Diskussion um ein Zuwanderungsgesetz wird von vielen betont, dass Begrenzung der Zuwanderung besonders wichtig ist. Der Wanderungssaldo der ausländischen Bevölkerung - das haben wir heute schon von Frau Beck gehört - war in den 90er-Jahren sehr unterschiedlich. In den Jahren 1997 und 1998 war er sogar negativ; in dieser Zeit gab es also mehr Wegzüge als Zuzüge.

Charakteristisch für Deutschland sind sowohl Zuzüge als auch Wegzüge in hoher Zahl. Unser Land ist ein Einwanderungsland und ein Auswanderungsland. Von 1950 bis 2000 kamen über 30 Millionen Menschen in unser Land; diese Zahl wurde schon genannt. Nicht gesagt wurde, dass in dieser Zeit über 20 Millionen Menschen aus unserem Land ausgewandert sind. Hätten wir diese Wanderungen nicht gehabt, wären wir nicht nur weniger, sondern unsere Gesellschaft wäre im Durchschnitt auch älter.

Löst Migration die Probleme alternder Gesellschaften? Sicher nicht. Aber Migration kann den Alterungsprozess einer Gesellschaft abmildern oder verlangsamen.

Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat in einem Gutachten im Auftrag des Landes Bayern geschrieben:
Aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums in den geographisch benachbarten Regionen Europas ist in Zukunft mit einem noch verstärkten Zuwanderungsdruck nach Deutschland zu rechnen.

Will er damit Ängste schüren oder weiß er es nicht anders? Die neuesten Daten des Europarats, veröffentlicht vor zwei Monaten, stellen fest, dass es von den 43 Mitgliedstaaten des Europarates gerade noch zwei Länder gibt, die ein natürliches Bevölkerungswachstum haben. Das ist die Türkei mit 2,5 Geburten pro Frau und Island mit rund 2,1. Viele andere Länder liegen weit darunter, so auch Deutschland.

Andere Bevölkerungswissenschaftler wie Dieter Oberndörfer betonen, dass beides nötig ist, Migration und mehr Kinder. Das heißt, Familienpolitik muss so gut sein, dass Kinder kein Armutsrisiko sind und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Dazu ist einiges gemacht worden; vieles wird sicher noch nötig sein.

Der Sechste Familienbericht ist schon zitiert worden. Er besagt, dass Familien ausländischer Herkunft ein "integraler Bestandteil" der Bundesrepublik sind. Ferner wird darauf hingewiesen, dass das Nachzugsalter 16 Jahre - der Meinung ist auch die Europäische Kommission - kritisiert werden muss und es bei 18 Jahren liegen müsste.

Um wie viele Kinder geht es eigentlich? Auch das ist schon gesagt worden: Es geht um eine kleine Zahl; die "Zeit" spricht von 8.600 im Jahr. Ich frage: Können wir nicht froh sein, wenn diese Kinder zu uns kommen wollen?

Der vorliegende Gesetzentwurf und die Änderungen erfüllen sicher nicht alle unsere Wünsche. Es sind viele Kompromisse gemacht worden, sowohl bei der Migration aus humanitären Gründen als auch bei der arbeitsmarktbedingten Zuwanderung. Manches fehlt völlig, zum Beispiel Regelungen für die Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Die Menschenrechte gelten für alle, auch und besonders für sie. Niemand sollte bestraft werden, der ihnen bei der gesundheitlichen Versorgung oder bei der Bildung ihrer Kinder hilft.

Trotz der Kompromisse und Unzulänglichkeiten ist es sinnvoll und nötig, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen und in Bundestag und Bundesrat zu verabschieden. So schreibt Stefan Vesper - ich zitiere noch einmal aus dem Informationsdienst des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom Dezember des letzten Jahres -:
Deshalb ist es jetzt an der Zeit, zu handeln und ein Gesetz zu beschließen, das insbesondere den Anstoß gibt und auch die finanziellen Voraussetzungen dafür schafft, dass die Integration von Ausländern wirklich gelingt.


Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist weit überschritten.


Christa Lörcher (fraktionslos): Dazu gehört für das ZdK auch, die Familie als Einheit zu sehen und das Nachzugsalter für Kinder entsprechend hoch anzusetzen.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

 

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Anmerkung:
[1] Im Deutschen Bundestag gaben im Anschluß an die Debatte 587 Abgeordnete ihre Stimme ab. Der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes wurde mit 321 zu 225 Stimmen und 41 Enthaltungen angenommen und damit als Gesetz beschlossen.
In seiner Sitzung vom 22. März stimmte der Bundesrat nach heftiger Debatte und einer verfassungsrechtlich umstrittenen Abstimmung, die von lautstarker und vorher abgesprochener "Empörung" der CDU-geführten Länder begleitet wurde, mit einer knappen Mehrheit von 35 Stimmen ebenfalls für das Gesetz.
Bundespräsident Johannes Rau fertigte am 20. Juni 2002 das Zuwanderungsgesetz aus, nachdem er durch sorgfältige Prüfung der verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Abstimmung im Bundesrat zu dem Ergebnis gekommen war, dass "zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß" nicht vorläge. Er verwies jedoch ausdrücklich auf die Möglichkeit, die Vorgänge der Abstimmung im Bundesrat durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Anschließend wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet und hätte somit zum vorbestimmten Zeitpunkt in Kraft können.
Daraufhin reichten die sechs CDU-regierten Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Sachsen und Thüringen wegen der verfassungsrechtlich umstrittenen Bundesratsabstimmung Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts schloss sich am 18. Dezember 2002 der Auffassung der Union an. Er stellte fest, dass die Abstimmung im Bundesrat nicht verfassungsgemäß stattgefunden hatte. Aus diesem Grund trat das Zuwanderungsgesetz, trotz Verkündung im Bundesgesetzblatt, nicht in Kraft.


Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 222. Sitzung vom 01.03.2002 (Plenarprotokoll 14/222).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der Abgeordneten Christa Lörcher (fraktionslos) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag (01.03.2002), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2002/rede_loercher_03-01.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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