Rede des innenpolitischen Sprechers der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag

vom 1. März 2002[1]


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Merkel, wissen Sie, was das Sympathische an Ihrer Rede war? - Man merkte bei jedem Satz: Sie hätten ja eigentlich gewollt.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn ich mich hier umsehe, sehe ich viele Kollegen, die ich in sieben Jahren im Bundestag kennen gelernt habe und von denen ich genau weiß, dass sie es besser wissen. Sie haben sich den Gesetzentwurf angeschaut und wissen, dass vieles von dem, was hier gesagt wurde, nicht mit dem übereinstimmt, was in dem Entwurf steht. Sie würden gerne zustimmen, dürfen es aber aus Gründen, die uns allen bekannt sind, nicht. Ich bedaure Sie sehr dafür.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, am 1. Januar 2000 trat ein bedeutendes Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Das ist bekanntlich das Staatsangehörigkeitsrecht. Damals wurde das Geburtsrecht in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt.

(Dirk Niebel [FDP]: Das war unser Vorschlag!)

Wir sind damit ein europäisches Land geworden, weil wir eine wichtige Sache durchgeführt haben.

(Dirk Niebel [FDP]: Unsere Idee war das!)

- Mit Unterstützung von Ihnen. Freuen Sie sich, dass Sie auf der richtigen Seite standen. - Damals stand die CDU/CSU auf der falschen Seite. Ich weiß, dass es viele von Ihnen bereuen. Heute sind Sie aber dabei, denselben Fehler noch einmal zu machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie stehen auf der falschen Seite. Sie verhindern ein Gesetz, das die Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Unternehmer, Kirchen und alle vernünftigen Kräfte in der Gesellschaft - darunter auch viele Christdemokraten - wollen. Helfen Sie mit, dass ein Gesetz, das dazu beiträgt, dass künftig alle, die zu uns kommen, Deutsch lernen, verabschiedet wird. Was haben Sie dagegen, dass Migrantinnen und Migranten künftig Deutsch lernen, wenn sie zu uns kommen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Lächerlich!)

Helfen Sie mit, dass dieses Gesetz durchgesetzt wird. Die Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer und die Schülerinnen und Schüler wollen es. Ich verstehe nicht, was man dagegen haben kann.

Aber eines ist ein bisschen unfair. Wenn man während seiner Regierungszeit etwas nicht durchgeführt hat, das dann andere machen - auch wenn es vielleicht zu wenig ist, weil nicht mehr Mittel zur Verfügung stehen -, und man dann sagt, das reiche nicht, erscheint mir das ein bisschen wohlfeil. Sie hätten es besser machen können, haben das aber nicht getan.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir beginnen damit. Helfen und unterstützen Sie uns! Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir später mehr Geld haben und mehr für die Sprachkurse tun können. Aber nichts tun ist nicht mehr als zu wenig tun. Nichts tun ist immer weniger, meine Damen und Herren.

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Lieber nichts als etwas Falsches, Herr Özdemir!)

Ich habe leider nur wenig Zeit.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Was heißt hier leider? Unerträgliche Eitelkeit!)

Aber ich möchte noch auf eines hinweisen. Je weiter wir in den Wahlkampf kommen, desto stärker wird das Argument vertreten: Die Ausländer sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen und beziehen häufiger Sozialhilfe. Professor Birg, der Bevölkerungswissenschaftler aus Bielefeld, wird in diesem Zusammenhang gern zitiert. Aber an eines sollten Sie sich erinnern, meine Damen und Herren. Ich meine das ernst. Als die Anwerbeabkommen geschlossen worden sind, haben nicht die Grünen regiert - uns gab es damals noch nicht -, auch die SPD nicht. Sie haben regiert, als die Anwerbeabkommen geschlossen worden sind, aufgrund deren beispielsweise meine Eltern in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Damals wurden Leute in der Schwerindustrie, im Bergbau, unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Diese Leute sind bewusst ausgesucht worden, weil sie ungelernte Arbeitskräfte waren. Weil nicht in sie investiert wurde und weil sie nicht aus- und weitergebildet wurden, sind sie heute teilweise stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Daraus kann man ihnen aber keinen Vorwurf machen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das sind doch nicht die aus den 50er- und 60er-Jahren! Die sind doch in den letzten zehn Jahren gekommen!)

weil wir damals keine Konzepte für Integration hatten und man ihnen nicht Deutsch beigebracht hat. Das kann man ihnen heute nicht zum Vorwurf machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Was wir mit dem Gesetz wollen, ist, aus den Fehlern zu lernen und künftig bei der Einwanderung einen Fahrplan zur Integration vom ersten Tag der Einreise an zur Verfügung zu stellen. Helfen Sie uns mit, damit durchgesetzt wird, worauf alle in der Gesellschaft warten!

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

 

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Anmerkung:
[1] Im Deutschen Bundestag gaben im Anschluß an die Debatte 587 Abgeordnete ihre Stimme ab. Der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes wurde mit 321 zu 225 Stimmen und 41 Enthaltungen angenommen und damit als Gesetz beschlossen.
In seiner Sitzung vom 22. März stimmte der Bundesrat nach heftiger Debatte und einer verfassungsrechtlich umstrittenen Abstimmung, die von lautstarker und vorher abgesprochener "Empörung" der CDU-geführten Länder begleitet wurde, mit einer knappen Mehrheit von 35 Stimmen ebenfalls für das Gesetz.
Bundespräsident Johannes Rau fertigte am 20. Juni 2002 das Zuwanderungsgesetz aus, nachdem er durch sorgfältige Prüfung der verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Abstimmung im Bundesrat zu dem Ergebnis gekommen war, dass "zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß" nicht vorläge. Er verwies jedoch ausdrücklich auf die Möglichkeit, die Vorgänge der Abstimmung im Bundesrat durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Anschließend wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet und hätte somit zum vorbestimmten Zeitpunkt in Kraft können.
Daraufhin reichten die sechs CDU-regierten Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Sachsen und Thüringen wegen der verfassungsrechtlich umstrittenen Bundesratsabstimmung Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts schloss sich am 18. Dezember 2002 der Auffassung der Union an. Er stellte fest, dass die Abstimmung im Bundesrat nicht verfassungsgemäß stattgefunden hatte. Aus diesem Grund trat das Zuwanderungsgesetz, trotz Verkündung im Bundesgesetzblatt, nicht in Kraft.


Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 222. Sitzung vom 01.03.2002 (Plenarprotokoll 14/222).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede des innenpolitischen Sprechers der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag (01.03.2002), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2002/rede_oezdemir_03-01.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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