Rede der Abgeordneten Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag

vom 1. März 2002[1]


Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie auch immer diese Debatte ausgeht, man kann eines mit Gewißheit sagen: Wir werden in diesem Land weiter Zuwanderung haben. Ob Unionsbürger, Familienangehörige, Flüchtlinge oder Arbeitskräfte; ein Land in der Mitte Europas, das Teil einer wachsenden europäischen Gemeinschaft ist, wird weiterhin Zu- und Abwanderung haben. Die eigentliche Aufgabe ist es, diese Zu- und Abwanderung zu gestalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie in dieser Debatte vonseiten der Union die Ängste der Bevölkerung schüren wollen und den Eindruck zu erwecken versuchen, dieser Gesetzentwurf würde ein deutliches Mehr an Zuwanderung bringen, dann sagen Sie schlicht die Unwahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

In dieser Debatte wird auch der Migrationsbericht der Ausländerbeauftragten vorgelegt. Nehmen Sie bitte einige wenige Zahlen, die sehr wichtig sind, wahr: Im Jahr 1990 - also zu Zeiten der Kohl-Regierung - hatten wir über 1,2 Millionen Zuwanderer in diesem Land. Es sind auch Menschen gegangen, und zwar sehr viele. Geblieben sind damals etwa 500.000. Im Jahre 1991 - also noch vor den Kriegen auf dem Balkan - sind 1,2 Millionen Menschen zugewandert. Lassen wir die Balkankriege außen vor - sie haben die Situation stark verändert -, so müssen wir feststellen: Wir haben 1998 800.000 Zuzüge, 1999 870.000 und im Jahre 2000 840.000 gehabt, also deutlich weniger als zu Beginn der 90er-Jahre unter der Kohl-Regierung. Wir hatten dabei in etwa immer die gleiche Zahl an Abwanderungen. Im letzten Jahr sind 86.000 Ausländer mehr, als gekommen waren, in Deutschland geblieben. Das ist bei einer Bevölkerungsgröße von 82 Millionen Menschen, die in diesem Land leben, wahrlich keine Zahl, die uns beunruhigen sollte.

Der neu vorliegende Gesetzentwurf gestaltet vieles von dem, was es bereits an alten Zuwanderungstatbeständen gab und geben muss. Familien muss man zusammenführen, Unionsbürger muss man kommen lassen und Flüchtlingen muss man Schutz gewähren. Der neue Gesetzentwurf gestaltet diese Tatbestände neu und übersichtlicher. Es geht nicht um ein Mehr an Zuwanderung, wie Sie fälschlicherweise behaupten. Sie versuchen unverantwortlicherweise, in der Bevölkerung Ängste zu schüren, es würden jetzt mehr Ausländer als vorher kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge ordneten der SPD)


Präsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, bitte.

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau Kollegin Beck, Sie haben gerade bei Ihrem Vergleich zwischen Anfang und Ende der 90er-Jahre die Jahre 1990 und 1991 genannt und die Zuzugszahlen von damals in Relation zu den Zahlen Ende der 90er-Jahre gesetzt.

Ist es richtig, dass in den Jahren 1990 und 1991 noch das alte Asylrecht galt und nicht das neue, das seit dem 1. Juli 1993 gilt? Ist es richtig, dass der wesentliche Teil des Zuzugs auf den enormen Anstieg der Asylbewerberzahlen Anfang der 90er-Jahre zurückzuführen ist, dass wir im Jahre 1992 438.000 Asylbewerber hatten und dass die Zahlen der Jahre 1990 und 1991 wesentlich niedriger gewesen wären, wenn sich die SPD nicht viele Jahre geweigert hätte, das Asylrecht so zu reformieren, wie es im Interesse des Landes dringend not wendig gewesen wäre?

(Beifall bei der CDU/CSU)


Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Kollege Bosbach, wenn Sie mir genau zugehört hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass ich genau die Jahre, in denen auf dem Balkan die vier Kriege getobt haben, ausgelassen habe.

(Zurufe von der CDU/CSU: Darum geht es doch gar nicht! - Das ist keine Antwort!)

In dieser Zeit hat es in der Tat eine deutlich erhöhte Zuwanderung gegeben.

(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Es geht doch nicht um den Balkan!)

Diese erhöhte Zuwanderung hätte es mit oder ohne Asylkompromiss gegeben; denn wenn Krieg vor der Haustür ist, kommen die Menschen und suchen Schutz - egal, welche Gesetze Sie machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Das ist keine Antwort gewesen!)

Wir hatten allerdings in den Jahren der Kohl-Regierung eine hohe Zahl von Zuzügen durch die Spätaussiedlerzuwanderung. Das war politisch gewollt und wurde von uns auch mit getragen. Wir haben versucht, diese Zuwanderung zu gestalten. Aber man muss einfach sagen: Die hohe Zahl von Zuzügen in dieses Land war politisch gewollt und ist auch eine große Herausforderung für dieses Land gewesen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Keine Ahnung hat die Frau!)

Was passiert nun mit dem neuen Gesetz? Es wird in der Tat ein Türchen neu geöffnet; das ist die Arbeitszuwanderung. Die ist bisher verschämt mit der Anwerbestoppausnahmeverordnung geregelt, bei der nicht einmal das Parlament die Möglichkeit hat mitzubestimmen. Sie wird in dem neuen Gesetz so geregelt, wie es sich für ein ordentliches Gesetz gehört. Die Zahl der Zuwanderer wird sich durch dieses neue gesetzliche Türchen vermutlich in einer Größenordnung von vielleicht plus oder minus 10.000 Menschen verändern. Alles andere im Gesetzentwurf ist übersichtlichere Gestaltung, Modernisierung und Öffnung für ausländische Studenten, die wir hier im Land ausbilden und die endlich bleiben können sollen, statt in die USA geschickt zu werden. Es ist Angleichung unseres Flüchtlingsrechts an den Standard der Genfer Flüchtlingskonvention und damit an Europa. Es ist Angleichung an ein modernes europäisches Aufenthaltsrecht, weil wir als Europäische Union zusammenwachsen.

Wenn Sie sich dem verstellen, dann verstellen Sie sich tatsächlich der Aufgabe, endlich das Faktum, dass es Zu- und Abwanderung in diesem Land immer geben wird, zu akzeptieren, weil wir nicht zurück können in das Mittelalter.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die Grünen bewegen sich doch im Mittelalter!)

Wir müssen diese Tatsache gestalten. Das tut dieses Gesetz, weil es Einwanderung endlich als Faktum anerkennt, weil es die Integrationspolitik der Einwanderung an die Seite stellt, was Sie versäumt haben. An diesen Versäumnissen haben die Städte und Gemeinden bis heute zu tragen. Das alles wird hier in einem Paket vorgelegt.

Wenn Sie sich dem verweigern, wollen Sie offensichtlich nur Obstruktion, dann wollen Sie offensichtlich mit diesen Gefühlen in der Bevölkerung spielen. Ich weiß, dass man an dieses Gefühl, es seien zu viele Ausländer im Land, an docken kann, wenn man ordentlich auf die Tonne haut. Aber ich sage Ihnen noch einmal: Es ist unverantwortlich, weil sämtliche sachlichen Debatten, die wir im vergangenen Sommer alle gemeinsam in diesem Haus geführt haben, von Tag zu Tag mehr verschüttet werden und eine politische Regression stattfindet, die dieses Hauses nicht würdig ist.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Die Rede war auch unwürdig!)

 

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Anmerkung:
[1] Im Deutschen Bundestag gaben im Anschluß an die Debatte 587 Abgeordnete ihre Stimme ab. Der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes wurde mit 321 zu 225 Stimmen und 41 Enthaltungen angenommen und damit als Gesetz beschlossen.
In seiner Sitzung vom 22. März stimmte der Bundesrat nach heftiger Debatte und einer verfassungsrechtlich umstrittenen Abstimmung, die von lautstarker und vorher abgesprochener "Empörung" der CDU-geführten Länder begleitet wurde, mit einer knappen Mehrheit von 35 Stimmen ebenfalls für das Gesetz.
Bundespräsident Johannes Rau fertigte am 20. Juni 2002 das Zuwanderungsgesetz aus, nachdem er durch sorgfältige Prüfung der verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Abstimmung im Bundesrat zu dem Ergebnis gekommen war, dass "zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß" nicht vorläge. Er verwies jedoch ausdrücklich auf die Möglichkeit, die Vorgänge der Abstimmung im Bundesrat durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Anschließend wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet und hätte somit zum vorbestimmten Zeitpunkt in Kraft können.
Daraufhin reichten die sechs CDU-regierten Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Sachsen und Thüringen wegen der verfassungsrechtlich umstrittenen Bundesratsabstimmung Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts schloss sich am 18. Dezember 2002 der Auffassung der Union an. Er stellte fest, dass die Abstimmung im Bundesrat nicht verfassungsgemäß stattgefunden hatte. Aus diesem Grund trat das Zuwanderungsgesetz, trotz Verkündung im Bundesgesetzblatt, nicht in Kraft.


Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 222. Sitzung vom 01.03.2002 (Plenarprotokoll 14/222).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der Abgeordneten Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag (01.03.2002), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2002/rede_beck-ml_03-01.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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