Rede der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zur Europadebatte im Deutschen Bundestag

Vom 18. Oktober 2001


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ganze Debatte an diesem Vormittag wird von einem Wort beherrscht, nämlich dem der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Natürlich ist die Handlungsfähigkeit gerade im Hinblick auf die Herausforderungen entscheidend, die sich durch die Ereignisse des 11. September ergeben haben. Aber warum ringen gerade wir Liberalen bei unserer Zustimmung zum Vertrag von Nizza mit uns? Weil wir sehen, dass mit dem Vertrag von Nizza zu wenig Handlungsfähigkeit in der Europäischen Union geschaffen wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Uwe Hiksch [PDS])

Denn was heißt Handlungsfähigkeit der Europäischen Union? Handlungsfähigkeit bedeutet in vielen Bereichen, dass der Rat in wesentlichen Fragen leichter und besser entscheiden kann. Dazu muss das Vetorecht weitest gehend abgeschafft werden. Das ist im Vertrag von Nizza leider nicht in der Form erfolgt, in der es notwendig gewesen wäre.

Handlungsfähigkeit und Legitimation der Europäischen Union bedeuten, dass das Europäische Parlament endlich zu einem wirklichen Parlament wird. Dazu gehören das Haushaltsrecht und das Mitentscheidungsrecht bei allen Rechtsetzungsakten. Das ist mit dem Vertrag von Nizza nicht geschehen.

(Beifall bei der FDP)

Wir als FDP-Bundestagsfraktion stimmen dem Vertrag zu, weil wir die Weiterentwicklung und die weitere Integration der Europäischen Union wollen, weil wir damit nach außen deutlich machen wollen, dass wir für den Osterweiterungsprozess stehen. Welche Partei tut das mehr als die FDP? Sie hat immer Schelte bezogen, wenn sie versucht hat - das ist ja auch gelungen -, mehr Druck, auch im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf, auszuüben.

Warum ist das Konventsmodell vor dem Hintergrund des Vertrags von Nizza so wichtig? Weil deutlich geworden ist, dass es immer schwieriger wird und fast nicht gelingen kann, mit den herkömmlichen Strukturen und Verfahren, nämlich der Regierungskonferenz, zu einschneidenden strukturellen Veränderungen in der Europäischen Union zu kommen. Warum ist das nicht der Fall? Weil es jetzt um Machtfragen geht und keine Regierung, keine nationale Regierung und auch nicht die europäischen Institutionen, gerne Kompetenzen abgibt und das Europäische Parlament - bzw. in dieser Phase, in der es noch kein richtiges Parlament ist, die nationalen Parlamente - stärker beteiligt.

Deshalb sind wir als Liberale so sehr für den Parlamentskonvent. Ich denke, das ist der richtige Begriff.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir brauchen keinen Konvent, in dem die Akteure zusammensitzen, womöglich die Regierungsvertreter eine Mehrheit haben, ein paar Abgeordnete sich austoben und ihre Ideen kundtun dürfen, aber vielleicht nur unverbindliche Optionen formulieren, die dann anschließend wieder eingesammelt werden, wenn die Regierungschefs zusammenkommen. Nein, dieser Konvent bringt nur etwas, wenn er ein wirklicher Parlamentskonvent ist.

(Beifall bei der FDP)

Ich vertraue nicht darauf, dass die Regierungen einen solchen Parlamentskonvent von sich aus schaffen. Natürlich tun sie das nicht. Wir waren lange genug in der Regierung und wissen, dass man natürlich versucht, an seinen Befugnissen festzuhalten. Deshalb muss das gesamte Parlament das Bewusstsein haben, dass es auf die Regierung Druck ausüben muss, damit der Konvent entsprechend zusammengesetzt wird. Das haben wir getan und des halb hat sich die Regierung auf den Konvent eingelassen. Ich teile voll die Auffassung von Herrn Hintze: Wenn aus den Nationalstaaten zwei Vertreter entsandt werden und das im Falle Deutschlands ein Vertreter des Bundestag und einer des Bundesrates sind, dann muss es darüber hinaus weitere Vertreter geben, die mindestens anwesend sein dürfen. Herr Meyer, Sie können ein Lied davon singen. Es ist für Sie und Ihren Kollegen Altmaier als Ihren Vertreter schon schwierig genug gewesen, die Fraktionen zu unterrichten und zu in formieren, die im Grundrechtekonvent nicht anwesend waren.

Deshalb brauchen wir unbedingt Vertreter in diesem Konvent, die, auch wenn sie kein Stimmrecht haben, doch voll beteiligt werden und voll in diesem Prozess dabei sind. Deshalb appelliere ich auch an die großen Fraktionen in diesem Hause, daran zu denken, dass auch Vertreter kleinerer Fraktionen in der Lage sind, in diesem Konvent mit sehr klarer Stimme und, wenn sie nicht in der Regierungsverantwortung stehen, vielleicht noch unabhängiger und selbstbewusster die Rechte der Parlamente und damit die Rechte der Bürgerinnen und Bürger deutlich zum Ausdruck zu bringen. Die Grundrechte-Charta und der Konvent dazu waren ein gutes Modell. Man hat sich darauf eingelassen, weil es da noch nicht um Machtfragen ging.

Wie muss der Rat reformiert werden? Er muss transparenter werden. Natürlich muss das Vetorecht abgeschafft werden. Es muss nachvollziehbar sein, was er tut. Das Parlament muss ihn mehr kontrollieren. Das gilt auch gegenüber der Kommission.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vertrauen wir hier nicht auf das, was die Regierung uns gibt, sondern seien wir selbstbewusst genug, das einzufordern, was notwendig ist, damit dieser Konvent zu anderen Ergebnissen führt als die bisherigen Regierungskonferenzen!

Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der PDS)

 

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Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 195. Sitzung vom 18. Oktober 2001 (Plenarprotokoll 14/195).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zur Europadebatte im Deutschen Bundestag (18.10.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_leutheusser-schnarrenberger_1018.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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