Interview mit Gregor Gysi über Terrorismus, Gerechtigkeit als Existenzfrage und Berliner Kamingespräche
"Wer an Rache denkt, ist nicht besonders mutig"

Vom 6. Oktober 2001


In den Medien wurde dieser Tage die Behauptung diskutiert, hinter den Aufrufen zur Besonnenheit nach den Anschlägen in den USA stecke feiges Denken. Fühlen Sie sich davon getroffen?
Ich finde, wer an Rache, an Militärschläge oder Krieg denkt, ist nicht besonders mutig. Zur Besonnenheit gehört immer mehr Mut, weil es ja auch bedeutet, sich gegen vorherrschende Stimmungen zu stellen. Insofern lässt mich diese Art von Vorwürfen eher kalt.

Dem wird gern entgegen gehalten, dass man damit Menschen nicht kommen kann, die Opfer zu beklagen haben.
Ich bin ganz sicher, dass Leute, die Angehörige verloren haben, ein dringendes Bedürfnis danach haben, dass die dafür Verantwortlichen ihrer Strafe zugeführt werden. Sie wollen mit Sicherheit nicht, dass ihre ermordeten Angehörigen der Anlass sind, weitere Unschuldige zu töten. Ich habe als Rechtsanwalt ziemlich viele Leute kennen gelernt, die Angehörige durch Verbrechen verloren haben. Ich habe noch nie solche Hinterbliebenen erlebt, die sich gewünscht hätten, dass deshalb ein Unschuldiger getötet werden sollte. Aber genau das würde bei einem Vergeltungsschlag passieren.

In der PDS hat es für einiges Erschrecken gesorgt, dass Sie sich für begrenzte Militäraktionen zur Ergreifung der Täter ausgesprochen haben.
Mir geht es um folgendes: In den USA sind entsetzliche Verbrechen verübt worden. Und Diejenigen, die das geplant und angeordnet haben und selbst in Reichtum leben, sollen unbehelligt bleiben? Davon kann überhaupt keine Rede sein. Neben vielen weltpolitischen Veränderungen, die wir brauchen im Sinne einer demokratischeren, gerechteren Weltordnung, muss eine Aufgabe die Ergreifung der Täter sein, damit sie möglichst vor ein internationales Gericht gestellt werden.
Dazu muss man die Täter ermitteln, Haftbefehle erwirken und die jeweiligen Regierungen um Auslieferung ersuchen. Und wenn dann eine Regierung Nein sagt, hielte ich eine vom Militär durchgeführte polizeiliche Kommandoaktion zur Ergreifung der Täter - ohne dass Unschuldige gefährdet werden - für vertretbar. Ich will deutlich machen, dass wir es mit der Ergreifung der Verantwortlichen ernst meinen. Man darf nicht erlauben, dass die in Frieden reich und alt werden. Schon gar nicht bei Leuten, die ein solches Attentat auch noch nutzen, um an der Börse mit ihrem Wissen ihre Millionen zu mehren. Spätestens nach solcher Erfahrung müsste man übrigens meiner Meinung nach antikapitalistisch werden.

Sie sprechen inzwischen von Kommandounternehmen statt von Militäraktionen - ein kleiner rhetorischer Rückzug?
Nein. Ich habe von Anfang an deutlich gemacht, dass ich diese Art von Kommandounternehmen meine, die ich beschrieben habe und die ja begrenzte militärische Aktionen wären.

Die PDS hat immer die Einbeziehung der UNO in Entscheidungen über Friedenserhaltung und Militärmaßnahmen gefordert. Was nun, wenn eine UNO am Gängelband der USA deren Absichten willig folgt?
Wir müssen den Sicherheitsrat als das einzige zuständige Gremium des internationalen Gewaltmonopols anerkennen. Das heißt aber noch lange nicht, dass man alle Beschlüsse des Sicherheitsrates richtig finden soll. Wenn ich akzeptiere, dass der Bundestag der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland ist, heißt das ja auch nicht, dass ich seine Gesetze richtig finde. Ich sage damit nur, ein anderer kann auf keinen Fall Gesetze beschließen. Ich möchte nicht, dass wir uns an der Demontage der UNO beteiligen, indem wir wie die USA in den vergangenen Jahren sagen, die können beschließen, was sie wollen, es interessiert uns sowieso nicht.

Angenommen, die PDS sitzt im nächsten Berliner Senat - welche der jetzt geplanten Verschärfungen der Inneren Sicherheit trägt sie mit, welche nicht?
Ich gehe da völlig unideologisch ran und rede nicht von Verschärfung, sondern frage: Muss es Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und des Sicherheitsgefühls der Bürger geben? Da kann ich mir schon einiges vorstellen. Was wir ganz bestimmt nicht mitmachen werden, ist blinder Aktionismus, der höhere Sicherheit lediglich vortäuscht, in Wirklichkeit aber nur Freiheitsrechte einschränkt. Und ansonsten gibt es zwei Maßstäbe: Hilft die geplante Maßnahme wirklich, und gibt es keine Diskriminierung? Die stärkere Kontrolle aller Flugpassagiere ist beispielsweise vernünftig. Aber ich wäre ein strikter Gegner einer Sicherheitskontrolle am Flughafen, die nur Bürger ausgewählter Staaten beträfe.
Oder nehmen wir die Rasterfahndung. Nach welchen Kriterien soll man die so genannten Schläfer finden, die sich jahrelang völlig unauffällig verhalten? Man müsste fragen, wer immer pünktlich seine Miete zahlt, wer nie durch extremistische Äußerungen auffällt, wer nie eine Ordnungswidrigkeit begeht usw. Da blieben Millionen Menschen übrig. Nun sollen in Berlin nur die Angehörigen von 14 Staaten durch ein Raster geschickt werden. Das nenne ich Diskriminierung, weil damit zunächst alle Bürger dieser Staaten unter Generalverdacht gestellt und andere automatisch freigesprochen werden.

Was halten Sie von der Überprüfung von Einwanderern und Flüchtlingen durch den Verfassungsschutz?
Was kann mir denn der Verfassungsschutz über einen Flüchtling aus Uganda sagen? Die USA haben eine hochgerüstete Armee, sie haben die materiell, personell und finanziell am besten ausgestatteten Geheimdienste der Welt. Aber all das konnte diese Terroranschläge nicht verhindern. Daraus kann nur eines folgen: Es muss eine bessere internationale Zusammenarbeit auch der Polizeien geben. Wenn wir wirklich Sicherheit gewährleisten wollen, müssen wir vor allem dafür sorgen, dass Menschen wenigstens etwas zu verlieren haben. Frieden muss attraktiv sein. Ich habe Leute in Palästina kennen gelernt, für die bedeutete Frieden nichts als Elend, Armut und Hunger. Im Krieg meinten sie, wenigstens kämpfen zu können. Deshalb ist soziale Wohlfahrt auf der ganzen Welt nicht nur eine Frage von Gerechtigkeit, sondern sie wird für die reichen Länder in einem ganz neuen Sinn zur Existenzfrage.

Für die Innere Sicherheit sollen auch Sie zahlen, als eingefleischter Raucher über die Tabaksteuer.
Die Erhöhung von Verbrauchssteuern ist immer unsozial, weil sie die Leute völlig unabhängig von ihrem Einkommen gleichermaßen trifft. Aber wenn die Raucher nun schon derart zur Kasse gebeten werden, dann möchte ich auch, dass die Diskussion aufhört, dass wir ärztliche Behandlungen, die sich aus dem Rauchen ergeben, alleine bezahlen sollten, statt Krankenkassenleistungen zu erhalten. Schlimmer ist die Erhöhung der Versicherungssteuer, die Bürger ungerecht trifft und kleine Unternehmen gefährden kann.

Unmittelbar nach den Terroranschlägen ist die PDS in den Umfragen zur Berliner Wahl einige Prozent abgerutscht. Wie erklären Sie sich das?
Die Wahl der PDS in Berlin, auch die Wahl meiner Person, und die Vorstellung, dass die PDS am Senat beteiligt würde, das hat etwas zu tun mit einem Experiment. Ich glaube, dass die Menschen nach der Bankenkrise und dem Bruch der Großen Koalition tatsächlich einen Neuanfang wollten, und zwar unter Einschluss eines Experiments. Nach den schrecklichen Ereignissen in den USA herrschten Sorge und Angst, und dann wollen viele eher Beständigkeit statt Neuanfang. Und das wirkt sich zu Gunsten der regierenden Parteien aus. Aber diese Stimmung hält nicht bis zur Wahl.

Normalisiert sich der Wahlkampf wieder?
Nach einer bestimmten Zeit innerer Lähmung werden für die Menschen die Alltagsprobleme wieder wichtig. Ich war ja auch selber wie gelähmt. Alle Fragen, die mir am 10. September noch so wahnsinnig wichtig vorkamen, wirkten am 11. September so nebensächlich. Aber der Informationsbedarf, die Aufnahmebereitschaft der Menschen zu Berliner Themen nehmen wieder zu. Die nach dem 11. September entstandenen Ängste werden am 21. Oktober nicht mehr das ausschlaggebende Wahlmotiv sein.

Sie setzen sich dafür ein, dass die anderen Bundesländer die Bedeutung der Hauptstadt erkennen und Berlin entsprechend unterstützen. Das sagt der SPD-Kandidat Wowereit auch ...
Das sagt er genau nicht. Ich bin wirklich der Einzige in diesem Wahlkampf, der das Hauptstadtthema ins Gespräch bringt, als ein gesellschaftliches Anliegen und nicht nur als Finanzfrage. Ich schlage eine breite gesellschaftliche Kommission vor, nach meiner Vorstellung mit Leuten wie Richard von Weizsäcker und Hans-Jochen Vogel, die den Zweck einer Hauptstadt klären soll. Weil wir keine 800-jährige Hauptstadtgeschichte haben wie andere Staaten. Was sagt Wowereit? Er sagt, wir brauchen keine Kommission, der Senat sei ja schon in Verhandlungen mit den Landesregierungen. Das beweist - tut mir Leid -, dass er nicht verstanden hat, worum es geht.
Die Bayern beispielsweise müssen doch erst einmal akzeptieren, dass sie etwas davon haben, wenn ihre Hauptstadt Berlin funktioniert. Nur dann entsteht doch ein Bewusstsein in der Gesellschaft dafür, dass man die Hauptstadt gemeinsam finanzieren muss. Diese Arbeit ist elf Jahre lang nicht geleistet worden, auch von Klaus Wowereit nicht. Er steht wieder für irgendwelche Kamingespräche zwischen Regierungschefs, bei denen kaum etwas rauskommt.

Haben Ihre Wunschkandidaten für eine solche Hauptstadtkommission auf Ihr Ansinnen reagiert?
Ich habe zumindest kein Nein gehört.

Sie haben kürzlich kritisiert, dass bei der SPD die Bereitschaft zur Kooperation mit der PDS noch immer auf der Kippe stehe. Wowereit allerdings hat eine Koalition mit der PDS schon immer nur als Notlösung verstanden.
Jenseits einer Großen Koalition sehe ich eigentlich nur zwei Möglichkeiten: eine Ampelkoalition der SPD mit Grünen und FDP oder eine Koalition mit der PDS. Da muss sich die SPD entscheiden. Und das steht auf der Kippe. Wir müssen deutlich sagen: Die FDP-Variante hieße, dass die SPD bereit wäre zu sinnlosen Privatisierungen, zu Deregulierung und Sozialabbau. Und als Entschuldigung dafür hätte Wowereit immer den Partner FDP zur Hand. Ganz abgesehen davon, dass die FDP in Hamburg gerade Schill zum Innensenator machen will.

Was bleibt angesichts der weltpolitischen Entwicklung, auch der Rolle der NATO, von den Gedankenspielen, die PDS könne 2006 oder vielleicht schon 2002 im Bund mitregieren?
2002 ist unrealistisch, da glaube ich keine Sekunde an Regierungsbeteiligung. 2006 halte ich sie für gut möglich, weil ich Geschichte immer für offen halte. Das setzt allerdings voraus, dass sich die SPD verändert, sicherlich müssen auch wir uns verändern, vor allen Dingen aber muss sich die internationale Lage verändern.

Ein bisschen viel auf einmal.
Wieso denn? Wo steht denn geschrieben, dass es nicht möglich ist, 2006 eine etwas gerechtere Weltordnung zu haben? Die USA beispielsweise wenden sich jetzt an Staaten, mit denen die Regierung in ihrer Arroganz schon seit Jahren nicht mehr geredet hat. Plötzlich stellen sie fest, sie brauchen diese Länder. Es gibt jetzt Stimmen, die sich für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung einsetzen. Das kann dazu führen, dass die NATO einen anderen Stellenwert bekommt, weil UNO und OSZE gestärkt werden. Natürlich könnte die PDS einem Angriffskrieg wie gegen Jugoslawien nie zustimmen. Mal angenommen, wir wären seit 1998 in der Bundesregierung gewesen: Natürlich hätten wir eine Menge Kompromisse machen müssen. Aber die erste Bombe auf Jugoslawien wäre das Ende meiner Mitgliedschaft in dieser Bundesregierung gewesen. In solchen Fällen gilt: Wer die Kraft hat, in eine Regierung reinzugehen, muss auch die Kraft haben, wieder rauszugehen.

Interview: Wolfgang Hübner

 

Dieses Dokument ist Bestandteil von
Zur documentArchiv.de-Hauptseite

Weitere Dokumente finden Sie in den Rubriken


19. Jahrhundert

Deutsches Kaiserreich

Weimarer Republik

Nationalsozialismus

Bundesrepublik Deutschland

Deutsche Demokratische Republik

International

 

Quelle: Neues Deutschland vom 06.10.2001.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Interview mit Gregor Gysi über Terrorismus, Gerechtigkeit als Existenzfrage und Berliner Kamingespräche (06.10.2001), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2001/iv_gysi_1006.html, Stand: aktuelles Datum.


Diese Dokumente könnten Sie auch interessieren:
Resolution der UN-Generalversammlung 55/158 "Maßnahmen zur Beseitigung des internationalen Terrorismus" (30.01.2001)
Resolution der UN-Generalversammlung 56/1 "Verurteilung der Terroranschläge in den Vereinigten Staaten von Amerika" (12.09.2001)
Resolution des UN-Sicherheitsrats 1368 (12.09.2001)
Statement of the North Atlantic Council concerning the terroristic attacks against the United States of America (12.09.2001)
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika (12.09.2001)
Erklärung des Vorsitzenden der PDS-Fraktion Roland Claus zu den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika (12.09.2001)
Gemeinsame Erklärung Der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Der Präsidentin des Europäischen Parlaments, Des Präsidenten der Europäischen Kommission Und des Hohen Vertreters für die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (14.09.2001)
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika (19.09.2001)
Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten (19.09.2001)
Address by the President of the United States to a Joint Session of Congress and the American People (20.09.2001)
Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin (25.09.2001)
Rede des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin im Bundestag (25.09.2001)
Resolution des UN-Sicherheitsrats 1373 (28.09.2001)
Interview mit dem Bundesgeschäftsführer der PDS Dietmar Bartsch über den Kampf gegen den Terrorismus (28.09.2001)
Interview mit dem stellvertretenden PDS-Vorsitzenden Peter Porsch über die PDS und den Umgang mit dem Terror (01.10.2001)
NATO Speech Statement by the Secretary General of NATO Lord Robertson (02.10.2001)
Dresdner Appell der PDS "Frieden und Sicherheit in Freiheit und Gerechtigkeit" (06./07.10.2001)
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zur Aktuelle Lage nach Beginn der Operation gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan (11.10.2001)
Rede des Vorsitzenden der PDS-Fraktion Roland Claus zur Aktuelle Lage nach Beginn der Operation gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan (11.10.2001)
Rede des Abgeordneten Petra Pau (PDS) zu Gesetzentwürfen zur Bekämpfung des Terrorismus und Erhöhung der inneren Sicherheit (11.10.2001)


Dieses Dokument drucken!
Dieses Dokument weiterempfehlen!
Zur Übersicht »Bundesrepublik Deutschland (BRD)« zurück!
Die Navigationsleiste von documentArchiv.de laden!


Letzte Änderung: 03.03.2004
Copyright © 2001-2004 documentArchiv.de