[Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Polen.
(Bestandteil der Verträge von Locarno bzw. des sogenannten Locarno-Vertrags)

Vom 16. Oktober 1925.[1]


(Übersetzung.)]

  Der Deutsche Präsident und der Präsident der Republik Polen,
  gleichermaßen entschlossen, den Frieden zwischen Deutschland und Polen aufrechtzuerhalten, indem sie die friedliche Regelung der zwischen beiden Ländern etwa entstehenden Streitigkeiten sichern,
  im Hinblick auf die Tatsache, daß die internationalen Gerichte zur Achtung der durch die Verträge begründeten oder aus dem Völkerrecht sich ergebenden Rechte verpflichtet sind,
  einig darin, daß die Rechte eines Staates nur mit seiner Zustimmung geändert werden können,
  und in der Erwägung, daß die aufrichtige Beobachtung des Verfahrens zur friedlichen Regelung der internationalen Streitigkeiten die Möglichkeit gibt, ohne Anwendung von Gewalt die Fragen zu lösen, die die Staaten entzweien könnten,
  haben beschlossen, ihre gemeinsamen Absichten in dieser Hinsicht in einem Vertrage zu verwirklichen, und haben zu Bevollmächtigten ernannt:

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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  die, nachdem sie ihre Vollmachten ausgetauscht und in guter und gehöriger Form befunden haben, über folgende Bestimmungen übereingekommen sind:

Teil I.

A r t i k e l  1.

  [1] Alle Streitfragen jeglicher Art zwischen Deutschland und Polen, bei denen die Parteien untereinander über ein Recht im Streite sind und die nicht auf dem Wege des gewöhnlichen diplomatischen Verfahrens gütlich geregelt werden können, sollen in der nachstehend bestimmten Weise, sei es einem Schiedsgericht, sei es dem Ständigen Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung unterbreitet werden. Es besteht Einverständnis darüber, daß die vorstehend erwähnten Streitfragen namentlich diejenigen umfassen, die in Artikel 13 der Völkerbundssatzung aufgeführt sind.
  [2] Diese Bestimmung findet keine Anwendung auf Streitfragen, die aus Tatsachen entsprungen sind, die zeitlich vor diesem Vertrag liegen und der Vergangenheit angehören.
  [3] Die Streitfragen, für deren Lösung in anderen zwischen den Hohen Vertragschließenden Teilen in Geltung befindlichen Abkommen ein besonderes Verfahren vorgesehen ist, werden nach Maßgabe der Bestimmungen dieser Abkommen geregelt.

A r t i k e l  2.

  Vor jedem Schiedsverfahren und vor jedem Verfahren bei dem Ständigen Internationalen Gerichtshof kann die Streitfrage durch Vereinbarung der Parteien zur Herbeiführung eines Vergleichs einer ständigen Internationalen Kommission, genannt "Ständige Vergleichskommission", unterbreitet werden, die gemäß dem gegenwärtigen Vertrage gebildet wird.

A r t i k e l  3.

  Handelt es sich um eine Streitfrage, deren Gegenstand nach der inneren Gesetzgebung einer der Parteien zur Zuständigkeit ihrer Landesgerichte gehört, so wird der Streitfall dem im gegenwärtigen Vertrage vorgesehenen Verfahren erst dann unterworfen, wenn das innerhalb einer angemessenen Frist von der zuständigen Gerichtsbehörde des Landes erlassene Urteil die Rechtskraft erlangt hat.

A r t i k e l  4.

  [1] Die in Artikel 2 vorgesehene Ständige Vergleichskommission besteht aus fünf Mitgliedern, die wie folgt bestellt werden: Die Hohen Vertragschließenden Teile ernennen jeder einem Kommissar ihrer Staatsangehörigkeit; sie wählen die drei übrigen Kommissare in gegenseitigem Einvernehmen unter den Staatsangehörigen dritter Mächte. Diese drei Kommissare müssen von verschiedener Staatsangehörigkeit sein; aus ihrer Mitte bezeichnen die Hohen Vertragschließenden Teile den Vorsitzenden der Kommission.
  [2] Die Kommissare werden für drei Jahre ernannt; ihre Wiederernennung ist zulässig. Sie bleiben in Tätigkeit bis zur Bestellung eines Nachfolgers und jedenfalls bis zur Beendigung der zur Zeit des Ablaufs ihres Auftrages im Gange befindlichen Arbeiten.
  [3] Stellen, die infolge Todesfalls, Amtsniederlegung oder sonstiger Behinderung frei werden, werden in kürzester Frist nach dem für die Ernennung maßgebenden Verfahren wieder besetzt.

A r t i k e l  5.

  [1] Die Ständige Vergleichskommission wird innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags gebildet.
  [2] Erfolgt die Berufung der gemeinsam zu bestellenden Kommissare nicht innerhalb des genannten Zeitraumes oder, im Falle der Ersetzung, nicht innerhalb von drei Monaten nach Freiwerden der Stelle, so wird in Ermangelung anderweitiger Vereinbarungen der Schweizerische Bundespräsident gebeten werden, die erforderlichen Ernennungen vorzunehmen.

A r t i k e l  6.

  [1] Die Ständige Vergleichskommission tritt in Tätigkeit auf einen Antrag, der von den beiden Parteien in gegenseitigem Einvernehmen, oder, mangels eines solchen Einvernehmens, von einer der beiden Parteien an den Vorsitzenden zu richten ist.
  [2] Der Antrag enthält eine kurze Darstellung des Streitfalls und das Ersuchen an die Kommission, alle geeigneten Maßnahmen zur Herbeiführung eines Vergleichs anzuwenden.
  [3] Geht der Antrag von einer der Parteien aus, so wird er von dieser der Gegenpartei unverzüglich mitgeteilt.

A r t i k e l  7.

  [1] Innerhalb von 14 Tagen nach dem Tage, wo einer der Hohen Vertragschließenden Teile eine Streitfrage vor die Ständige Vergleichskommission gebracht hat, kann jede der Parteien für die Behandlung dieser Streitfrage ihren Kommissar durch eine Persönlichkeit ersetzen, die in der Angelegenheit besondere Sachkunde besitzt.
  [2] Die Partei, die von diesem Recht Gebrauch macht, teilt das unverzüglich der anderen Partei mit, der es alsdann freisteht, innerhalb von 14 Tagen nach dem Tage, wo ihr die Mitteilung zugegangen ist, das Gleiche zu tun.

A r t i k e l  8.

  [1] Der Ständigen Vergleichskommission liegt es ob, die strittigen Fragen zu klären, zu diesem Zweck alle geeigneten Auskünfte auf dem Wege einer Untersuchung oder sonstwie zu sammeln und sich zu bemühen, einen Vergleich zwischen den Parteien herbeizuführen. Sie kann nach Prüfung des Falles den Parteien die Bedingungen der ihr angemessen scheinenden Regelung mitteilen und ihnen eine Frist zur Erklärung setzen.
  [2] Nach Beendigung ihrer Arbeiten stellt die Kommission ein Protokoll aus, das je nach Lage des Falles feststellt entweder, daß sich die Parteien verständigt haben und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die Verständigung erfolgt ist, oder aber, daß die Parteien nicht zur Annahme eines Vergleichs gebracht werden konnten.
  [3] Die Arbeiten der Kommission müssen, wenn die Parteien nichts anderes vereinbaren, innerhalb von sechs Monaten nach dem Tage beendet sein, wo die Kommission mit dem Streitfall befaßt wurde.

A r t i k e l  9.

  Vorbehaltlich einer besonderen anderweitigen Vereinbarung regelt die Ständige Vergleichskommission selbst ihr Verfahren, das in jedem Fall kontradiktorisch sein muß. Bei Untersuchungen hält sich die Kommission, wenn sie nicht einstimmig anderweitig beschließt, an die Bestimmungen des Titels III (Internationale Untersuchungskommissionen) des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907.

A r t i k e l  10.

  Die Ständige Vergleichskommission tritt mangels abweichender Vereinbarung der Parteien an dem von ihrem Vorsitzenden bestimmten Orte zusammen.

A r t i k e l  11.

  Die Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission sind nur öffentlich auf Grund eines Beschlusses, den die Kommission mit Zustimmung der Parteien faßt.

A r t i k e l  12.

  [1] Die Parteien werden bei der Ständigen Vergleichskommission durch Agenten vertreten, die als Mittelspersonen zwischen Ihnen und der Kommission zu dienen haben; sie können sich außerdem der Hilfe von Beiräten und Sachverständigen, die sie zu diesem Zweck ernennen, bedienen und die Vernehmung aller Personen verlangen, deren Zeugnis ihnen nützlich erscheint.
  [2] Die Kommission ist ihrerseits befugt, von den Agenten, Beiräten und Sachverständigen der beiden Parteien, sowie von allen Personen, die sie mit Zustimmung ihrer Regierung vorzuladen für zweckmäßig erachtet, mündliche Erläuterungen zu verlangen.

A r t i k e l  13.

  Soweit dieser Vertrag nichts anderes bestimmt, werden die Entscheidungen der Ständigen Vergleichskommission mit Stimmenmehrheit getroffen.

A r t i k e l  14.

  Die Hohen Vertragschließenden Teile verpflichten sich, die Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission zu fördern und ihr insbesondere in möglichst weitem Maße alle zweckdienlichen Urkunden und Auskünfte zu liefern, sowie die ihnen zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um ihr auf dem Gebiete der Parteien und gemäß deren Gesetzgebung die Vorladung und Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Einnahme des Augenscheins zu ermöglichen.

A r t i k e l  15.

  Für die Dauer der Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission erhält jeder der Kommissare eine Vergütung, deren Höhe von den Hohen Vertragschließenden Teilen gemeinsam festgesetzt und die von beiden je zur Hälfte getragen wird.

Artikel  16.

  [1] Kommt es vor der Ständigen Vergleichskommission nicht zu einem Vergleiche, so wird die Streitfrage mittels einer zu vereinbarenden Schiedsordnung unterbreitet: entweder dem Ständigen Internationalen Gerichtshof gemäß den in seinem Statut vorgesehenen Bedingungen und Verfahrensvorschriften oder einem Schiedsgericht gemäß den Bedingungen und Verfahrensvorschriften, die im Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907 vorgesehen sind.
  [2] Können sich die Parteien über die Schiedsordnung nicht einigen, so ist jede von ihnen, nachdem sie dies einen Monat vorher angekündigt hat, befugt, die Streitfrage durch einen Antrag unmittelbar vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu bringen.

Teil II.

A r t i k e l  17.

  [1] Alle Fragen, über die die Deutsche Regierung und die Polnische Regierung uneinig sind, ohne sie auf dem gewöhnlichen diplomatischen Wege gütlich lösen zu können, und bei denen nicht gemäß Artikel 1 dieses Abkommens die Lösung durch Richterspruch verlangt werden kann, werden, falls für ihre Regelung nicht schon durch andere zwischen den Parteien geltenden Abkommen ein Verfahren vorgesehen ist, der Ständigen Vergleichskommission unterbreitet. Diese hat die Aufgabe, den Parteien eine annehmbare Lösung vorzuschlagen und jedenfalls einen Bericht zu erstatten.
  [2] Das in den Artikeln 6 bis 15 dieses Abkommens vorgesehene Verfahren findet Anwendung.

A r t i k e l  18.

  Wenn sich die Parteien nicht innerhalb eines Monats nach Abschluß der Arbeiten der Ständigen Vergleichskommission verständigt haben, wird die Frage durch Antrag einer der Parteien vor den Völkerbundsrat gebracht, der gemäß Artikel 15 der Völkerbundssatzung zu befinden hat.

Allgemeine Bestimmung.

A r t i k e l  19.

  In allen Fällen und namentlich dann, wenn die zwischen den Parteien strittige Frage aus bereits vollzogenen oder unmittelbar bevorstehenden Handlungen hervorgeht, wird die Ständige Vergleichskommission oder, falls diese nicht mehr mit der Angelegenheit befaßt ist, das Schiedsgericht oder der Ständige Internationale Gerichtshof, und zwar dieser gemäß Artikel 41 seines Statuts, so schnell wie möglich anordnen, welche vorläufigen Maßnahmen zu treffen sind. Es ist Sache des Völkerbundsrats, wenn er mit der Frage befaßt ist, gleichfalls vorläufige Maßnahmen anzuordnen. Jeder der Hohen Vertragschließenden Teile verpflichten sich, diese Anordnungen zu befolgen, sich jeder Maßnahme zu enthalten, die eine nachteilige Rückwirkung auf die Ausführung der Entscheidung oder der von der Ständigen Vergleichskommission oder dem Völkerbundsrat vorgeschlagenen Regelung haben könnte, und allgemein jegliche Handlung zu vermeiden, die geeignet wäre, die Streitigkeiten zu verschärfen oder auszudehnen.

A r t i k e l  20.

  Dieses Vertrag gelangt zwischen den Hohen Vertragschließenden Teilen auch dann zur Anwendung, wenn andere Mächte gleichfalls an dem Streitfall beteiligt sind.

A r t i k e l  21.

  Dieser Vertrag, der der Völkerbundssatzung entspricht, berührt nicht die Rechte und Pflichten der Hohen Vertragschließenden Teile in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Völkerbundes und soll nicht so ausgelegt werden, als ob er die Aufgabe des Völkerbundes beschränke, die zur wirksamen Wahrung des Weltfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen.

A r t i k e l  22.

  Diese Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen gleichzeitig mit den Ratifikationsurkunden des heute zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien geschlossenen Vertrags in Genf beim Völkerbund hinterlegt werden.
  Für das Inkrafttreten des Vertrags und seine Geltungsdauer gilt das Gleiche wie für den genannten Vertrag.
  Dieses in einem einzigen Exemplar ausgefertigte Vertrag soll im Archiv des Völkerbundes hinterlegt werden, dessen Generalsekretär gebeten wird, jeder der beiden vertragschließenden Regierungen beglaubigte Abschriften zuzustellen.


  Geschehen zu Locarno am 16. Oktober 1925.


Str[esemann].

A. S[krzynski].

 

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Anmerkung:
[1] Das Schiedsabkommen wurde am 16. Oktober 1925 in Locarno paraphiert, jedoch erst am 1. Dezember 1925 in London unterzeichnet. Vgl. dazu Schlußprotokoll der Konferenz von Locarno.


Quelle: Reichs-Gesetzblatt 1925 II, S. 995-1000.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Polen (16.10.1925), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/wr/1925/locarno-vertrag_polen.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.01.2004
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