Rede der Bundesvorsitzenden der CDU und Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Dr. Angela Merkel zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung"

vom 14. März 2003


Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen 90 Minuten in aller Ruhe zugehört. Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie sich Schritt für Schritt relativ mühevoll durch Ihr Referat gearbeitet haben. Auch der Vernunftbeifall, der nur zu erklären ist, weil es bei Ihnen keine Alternativen gibt,

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der große Wurf für die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt!)

Sie haben zum großen Teil nur Bekanntes wiederholt und vage Andeutungen gemacht. Aber immer dann, wenn es interessant und spannend wurde, gab es eisiges Schweigen auf Ihrer Seite in diesem Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, nicht aus dem Verwalten des Augenblicks herauskommt, aus dem Hetzen von Ereignis zu Ereignis, dann war es das Theater um diese Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Nur kein Neid! Von Ihnen hat keiner etwas erwartet!)

Es ist mir auch heute nicht ganz klar geworden, wer eigentlich aus der Krise herausgeführt werden soll:

(Zuruf von der FDP: Mir auch nicht!)

Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Land, die Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben noch immer nicht verstanden, dass es Situationen im Leben gibt, in denen Reden Silber, Handeln dagegen Gold ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Meine Damen und Herren, nur wenige hundert Meter von hier entfernt, im Bundesrat, hätten Sie heute zeigen können, dass es Ihnen mit einer Debatte, die wirklich zum Fortschritt für Deutschland führt, ernst ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie hätten das Steuervergünstigungsabbaugesetz zurückziehen und sagen sollen, dass Steuererhöhungen in einer solchen Situation Gift für die Wirtschaft sind. Das wäre ein Zeichen gewesen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Dass einige Ihrer Ministerpräsidenten hier sitzen und nicht da, wo das Gesetz beraten wird, zeigt, dass sie das genauso sehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Franz Müntefering [SPD]: Wieso ist dann der Herr Stoiber hier, Frau Merkel?)

Sie haben dieses Gesetz nicht zurückgezogen. Deshalb sage ich Ihnen voraus, dass wir es tun werden, weil uns Deutschland am Herzen liegt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden mit unserer Mehrheit im Bundesrat dafür sorgen, dass dieses zentrale Vorhaben Ihrer Regierung, das kontraproduktiv ist, nicht durchkommt; denn wir wollen, dass Ihre Politik in Deutschland nicht länger betrieben wird und dass unser Land mit oder ohne Sie endlich wieder nach vorne kommt, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Sie sich der Dimension der Krise, in der wir uns befinden, wirklich bewusst sind.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, dafür brauchen wir Sie!)

Herr Bundeskanzler, in den letzten Tagen vor dieser Rede haben Sie immer wieder von Opfern gesprochen. Viele, alle und nicht nur wenige müssten Opfer bringen. Ich gebe Ihnen ganz einfach zu bedenken, dass es schon unendlich viele Opfer Ihrer Politik gibt: 4,7 Millio-nen Arbeitslose sind Opfer Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Rekordhalter sind immer noch Sie! Denken Sie mal an die Kohl-Zeit!)

Das knappe Wirtschaftswachstum in diesem Land ist ein Opfer Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

40 000 Pleite gegangene Firmen sind Opfer Ihrer Politik. Die Kommunen sind Opfer Ihrer Politik.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist vollkommen lächerlich!)

Ich sage Ihnen vor allen Dingen eines - auch das hat in der Rede vollkommen gefehlt -: Zuversicht, Optimismus und der Glaube an eine gute Zukunft sind in den vergangenen fünf Jahren in Deutschland verloren gegangen. Das ist eines unserer wesentlichen Probleme.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen!)

Die Krise, in der wir uns befinden - ich glaube, wenn wir es nüchtern beschreiben, müssen wir es so nennen -, ist eine Krise der inneren Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutschland.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krise der CDU!)

Sie ist insbesondere eine Krise der Wirtschafts- und Sozialpolitik, zugleich aber auch eine Krise der historischen Ausrichtung unserer Sicherheits- und Außenpolitik.

Meine Damen und Herren, wo stehen wir denn heute? Wir müssen es uns noch einmal vergegenwärtigen: Technologie, Digitalisierung und die Informationsgesellschaft haben diese Welt dramatisch verändert,

(Ludwig Stiegler [SPD]: So etwas! Gut, dass Sie das bemerkt haben! - Franz Müntefering [SPD]: Das ist doch nicht neu!)

sie haben zu einer Beschleunigung der Globalisierung geführt und sie wirken in jede Familie hinein. Unser Leben wird sich auch in den nächsten Jahren ändern.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Ja, so was, das ist ja aufregend! - Gernot Erler [SPD]: Donnerwetter!)

Schauen Sie sich einmal an, wie in den verschiedenen Ländern der Welt auf diese Veränderungen reagiert wird.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie reagieren Sie denn? - Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihre Reaktion?)

Irland ist vom Armenhaus Europas zu einem der prosperierendsten Länder geworden. Die USA halten sich seit Jahrzehnten in einem überdurchschnittlichen Aufschwungprozess.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihr Konzept? - Gernot Erler [SPD]: Gehen Sie doch rüber!)

China, Hongkong und Taiwan - das alles sind Länder, die die Chancen der Globalisierung nutzen. Wie steht es um Deutschland? In Deutschland - das ist unsere Situation - ist die Zeit scheinbar stehen geblieben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage Ihnen ganz selbstkritisch - auch das gehört dazu -: Vielleicht hat manches auch schon zu unserer Regierungszeit begonnen.

(Jörg Tauss [SPD]: "Vielleicht"?)

Mit Sicherheit hat sich der Prozess in den letzten fünf Jahren aber in dramatischer Art und Weise verschlimmert. Das ist das Problem, über das wir heute zu debattieren haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutschland steht zweifellos an einem historischen Scheideweg. Wir müssen deshalb sagen, was Politik leisten kann und was unser Gestaltungsanspruch ist.

(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, was denn? - Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie es doch einmal! - Zurufe von der SPD)


Präsident Wolfgang Thierse:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständlichen Erregung bitte ich darum, der Rednerin die Chance zu geben, gehört zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Alles Proleten!)


Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):
Sie können wirklich davon profitieren, wenn Sie zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen bei der SPD)

Der Gestaltungsanspruch von Politik kann die Menschen in diesem Lande nur erreichen, wenn wir unsere Ziele klar und eindeutig formulieren. Deshalb sage ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ich will, dass Deutschland innerhalb von zwei Legislaturperioden, das heißt, bis zum Ende dieses Jahrzehnts, bis zum Jahre 2010, wieder an der Spitze in Europa steht,

(Hans-Peter Kemper [SPD]: Dann helfen Sie mit!)

und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es um die Menschen in diesem Lande geht. Wir wollen an die Spitze Europas!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dazu brauchen wir mehr als irgendeine Agenda. Wir brauchen einen Erfolgsweg. Wir wollen erreichen, dass Deutschland beim Wachstum unter den ersten drei Ländern an der Spitze steht. Ich sage ganz konkret: Ich will erreichen, dass Deutschland bis 2010 seinen Bürgern so viel Arbeit verschaffen kann, wie es die Niederländer, die Briten und die Dänen schon heute schaffen. Das sind keine außereuropäischen, sondern europäische Beispiele. Ich will, dass wir für Bildung und Forschung so viel ausgeben, wie es die Finnen schon heute tun. Das bringt uns wieder an die Spitze Europas.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gernot Erler [SPD]: Wie denn? - Siegfried Scheffler [SPD]: Lächerlich, was Sie hier vortragen!)

Uns alle in diesem Hause eint, dass wir nicht wissen, wie die Welt im Jahre 2010 aussieht. Wir wissen aber, dass der Erfolg nur mit einer freiheitlichen, leistungsorientierten und gerechten Wirtschaftsordnung zu schaffen ist. Herr Bundeskanzler, das Wort "Freiheit" ist pikanterweise in Ihrer ganzen Rede nicht ein einziges Mal vorgekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich weiß, dass wir dafür eine nationale Kraftanstrengung brauchen. Bei allem, was aus unserer Sicht in die richtige Richtung weist - ich komme in Einzelfällen darauf zurück -, sagen war, dass wir mitmachen. Wir bieten Ihnen eine nationale Kraftanstrengung an. Sie ist mehr als das, was Sie heute hier vorgelegt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weil wir das wissen, hat unsere Fraktion am 10. Februar dieses Jahres einen Dreistufenplan beschlossen.

(Franz Müntefering [SPD]: Was? Noch einmal! Drei Stufen?)

Wir haben festgelegt, was wir in der ersten Stufe tun müssen. Wir müssen im Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, bei der Zurückziehung der Steuererhöhungen und bei der Entbürokratisierung Sofortmaßnahmen ergreifen. Darauf muss eine zweite Stufe folgen, diese reicht bis 2004. Bis dahin müssen wir es schaffen, die sozialen Sicherungssysteme wetterfest zu machen. Wir müssen eine Offensive für Forschung und Bildung starten, damit wir endlich die Grundlagen für einen Aufstieg legen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konkret!)

Vor uns steht eine weitere schwierige Aufgabe. Machen wir uns nichts vor: All das, was heute hier gesagt wurde, reicht bei weitem nicht aus, um die demographischen Veränderungen unserer Gesellschaft wirklich zu beschreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir brauchen weitere steuerliche Entlastungen. Wir brauchen Entbürokratisierung und Privatisierung. Wir brauchen auch eine neue Ordnung der Aufgabenverteilung im Föderalismus. All das steht bis 2010 auf der Tagesordnung. Über vieles habe ich von Ihnen nichts gehört.

(Beifall bei der CDU/CSU - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann haben Sie nicht zugehört!)

Herr Bundeskanzler, die Vorgeschichte dieser Erklärung zeigt deutlich: Herausreden wird Ihnen nichts mehr nutzen.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Etwas konkreter!)

Herr Bundeskanzler, auf der CeBIT wurden Sie gefragt, wann es mit Deutschland denn wieder aufwärts geht. Darauf haben Sie gesagt: Am Freitag.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Gernot Erler [SPD]: Gute Antwort!)

Herr Bundeskanzler, ich kenne Sie. In einem halben Jahr werden Sie sagen, Sie hätten ja nicht gesagt, an welchem Freitag es sein sollte.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Auch wenn mancher Punkt in Ihrem Vortrag bedenkenswert, vielleicht sogar richtig ist, sehe ich das Problem - -

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Welche denn?)

- Entschuldigung, Sie wollen die Zusammenarbeit. Sie haben uns doch vorgeworfen, wir seien nicht konstruktiv. Jetzt zeigt sich, dass Sie nicht Recht haben. Sie schimpfen ja schon, wenn man andeutet, dass dies passieren könnte. Was wollen Sie denn nun? Sie wollen eine Opposition so, wie Sie sie sich malen würden. Wir sind aber anders. Uns geht es um Deutschland und nicht um Klamauk!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Um die vor uns liegenden Herausforderungen meistern zu können, brauchen wir ein Verständnis dessen, was passiert ist. Der Zusammenbruch des Kalten Krieges ist kein Zufall. Er ist der Sieg der Freiheit über die Diktaturen gewesen. Er ist der Sieg der Informationsgesellschaft und der ökonomischen Überlegenheit des Westens über die sozialistischen Modelle gewesen.

Das alles führt zu einer grundlegenden Veränderung der Welt. Diese Veränderung wird nach meiner festen Überzeugung unsere gesamte Wirtschaftsordnung auf eine neue Ebene heben. Ich bezeichne diese Ebene als bedeutend, weil wir, von der sozialen Marktwirtschaft kommend - mit dem Erbe Ludwig Erhards und mit allem, was wir geschaffen haben -, sagen müssen: Wir brauchen eine "neue soziale Marktwirtschaft" im 21. Jahrhundert.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gernot Erler [SPD]: Jetzt wissen wir genau, was los ist!)

Herr Bundeskanzler, deshalb brauchen wir so etwas wie die zweiten Gründerjahre der Bundesrepublik Deutschland. Wir brauchen einen Gründergeist. Wir brauchen eine Offensive für Selbstständigkeit. Bei dem, was Sie uns eben vorgetragen haben, wurde das nicht spürbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vor allen Dingen - das muss man leider sagen - ist es das Gegenteil dessen, was Sie uns seit der Bundestagswahl geboten haben.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Christa Sager,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Halbe Fraktionsvorsitzende!)

hat beim politischen Aschermittwoch gesagt:

Karneval ist Anarchie auf Kommando. Ich bin sicher, das haben aber manche auch beim Antritt der Regierung in Berlin gedacht.

Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Frau Sager. Am Aschermittwoch soll das sogar einmal vorkommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Karneval!)

Genau das ist der Unterschied: Wir brauchen keine Anarchie auf Kommando, sondern Gründergeist in Freiheit, Selbstständigkeit und Kreativität für diese Bundesrepublik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen kann ich über mich selber lachen!)

Was wichtig ist und was ich bei Ihnen vermisst habe, ist die Tatsache, dass man dann, wenn man die Menschen mitnehmen möchte, für das Dach eines gesellschaftlichen Modells, wie es die "neue soziale Marktwirtschaft" ist, Leitideen braucht, die den Menschen sagen, nach welchen Prinzipien die Veränderungen vonstatten gehen. Für mich ist die erste Leitidee: Wir brauchen einen konsequenten Kurs der Investitionen in die Zukunft.

Vom Bundeskanzler haben wir etwas über Investitionen gehört. Die Wahrheit ist doch: Die Investitionsquote im Bundeshaushalt dieses Landes ist auf einem historischen Tiefpunkt, wenn man die Hilfen für die Flutopfer herausrechnet. Sie liegt bei unter 10 Prozent des Bundeshaushaltes. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU - Franz Müntefering [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr! Sie haben keine Ahnung von den Zahlen! Das ist genau umgekehrt! Die Bundesinvestitionen sind höher als jemals zuvor! Das müssten Sie doch wissen!)

- Herr Müntefering, Ihr Satz "Die Bundesinvestitionen sind höher als jemals zuvor" stimmt nicht. Sie sind aber höher als 9,8 Prozent, und zwar deshalb, weil Sie in diesem Jahr die Flutinvestitionen dazurechnen können. Ansonsten wäre die Investitionsquote auf einem historischen Tiefstand. Das können wir Ihnen jederzeit beweisen, jedenfalls was die prozentualen Verhältnisse anbelangt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Franz Müntefering [SPD]: Das haben die Ihnen falsch aufgeschrieben! Sie sollten wenigstens die Zahlen kennen!)



Deshalb lautet unsere Forderung ganz konkret: Bis zum Ende der Legislaturperiode muss die Investitionsquote wieder auf 13 Prozent angestiegen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das entspricht 7,5 Milliarden Euro mehr. Jeder Cent davon ist besser angelegt als das Strohfeuer-Investitionsprogramm, das Sie uns heute hier vorgestellt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber gleichzeitig im Bundesrat blockieren!)

Viele haben sich gefragt: Warum muss der Kanzler heute reden und kann er das nicht nächsten Mittwoch machen?

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist die Frage!)

Mir ist inzwischen klar geworden: Wenn wir parallel über den Haushalt debattiert hätten, dann wäre noch deutlicher geworden, dass Sie in diesem Jahr Ihr Zukunftsprojekt Kinderbetreuung auf Kosten des Zukunftsprojekts Wissenschaftsfinanzierung finanzieren. Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht einmal gegen seine eigene Wissenschaftsministerin eingeschritten, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit darüber, wie wir mit unserer Zukunft umgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb müssen wir uns neben der Frage, wie die Zuwanderung zu steuern ist, auch fragen, wie wir Abwanderung verhindern können. Wissen Sie, wie viele Wissenschaftler dieses Land verlassen, weil sie hier keine Zukunft haben?

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn für die Wissenschaft ausgegeben?

Der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben Sie Mittel gestrichen. Den Menschen, die sich auf Ihre Zusagen verlassen haben, versprechen Sie jetzt, dass es 2004 besser wird. Wundern Sie sich nicht, wenn sie Ihnen überhaupt nichts mehr glauben!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Es ist immer noch besser als bei Ihnen!)

Die für Deutschland vielleicht entscheidenden Fragen haben Sie allenfalls ansatzweise in zwei Sätzen schematisch zu beantworten versucht: Womit wollen wir in Deutschland in Zukunft Geld verdienen? Wo entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft? Wir führen viel zu oft zuerst eine Diskussion über Risiken und vergessen, dass es auch Chancen gibt. Seit dem Bio-Regio-Wettbewerb im Biotechnologiebereich ist durch Ihre Politik nicht mehr viel Innovatives passiert. Sie haben die rote gegen die grüne Gentechnologie ausgespielt. Sie haben in der grünen Gentechnologie ein Moratorium verordnet, das die gesamten Saatgutbranchen aus Deutschland vertreiben wird, Herr Bundeskanzler. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie wollen eine Initiative starten, damit die chemische Industrie in Europa noch eine Heimat hat. Wer hat denn die Ökosteuer für alle Prozesstechniken erhöht? Wer schreitet energisch ein, wenn es um die Zukunft des Chemikalienrechts in Europa geht? Kümmern Sie sich um das Chemie-Weißbuch, damit die chemische Industrie nicht aus Deutschland vertrieben wird! Das ist Ihre Aufgabe, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wer hat denn der pharmakologischen Industrie versprochen, dass vier Jahre lang keine weiteren Abgaben drohen? Wer hat dann sein Wort nicht gehalten? So kann man die Industrie nicht in Deutschland halten. Wir müssen darüber nachdenken, wo die neuen Erfindungen zustande kommen. Eine Erfindung wie das Aspirin, das Medikament des 20. Jahrhunderts, muss auch in Zukunft - -

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

- Sie können ruhig lachen. - Ich sage Ihnen eines: Solange Sie nicht verstehen, dass dieses Land ohne eine entsprechende Wertschöpfung und Produktion - sie findet in Deutschland nicht im Niedriglohnbereich, sondern in den Hochtechnologien statt - keine Zukunft hat, solange wird es mit Deutschland leider nicht aufwärts gehen, meine Damen und Herren. Das müssen Sie einfach einmal kapieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür haben wir Sie gebraucht, unbedingt!)

Deshalb ist die erste Aufgabe, in die Zukunft zu investieren und um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen, vor allem in den Hochtechnologien.

Die zweite Leitidee muss lauten, die Spaltung der Gesellschaft in Arbeitslose und Arbeitende zu überwinden. Ich glaube, dass diese Spaltung bzw. die Barriere zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen die entscheidende soziale Frage unserer Gesellschaft ist. Deshalb muss sowohl für diejenigen, die sich selbstständig machen wollen, als auch für die, denen es um eine abhängige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht, der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert, erleichtert bzw. ermöglicht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dafür ist uns jede Initiative recht.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche?)

Aber dabei müssen wir weit springen, nicht kurz. Ihr Small Business Act allein reicht mit Sicherheit nicht aus, um Neugründungen in Deutschland zu ermöglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Natürlich sind wir bereit, mit Ihnen über Vereinfachungen im Handwerksrecht zu reden. Sie haben aber zum Teil nur Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt möglich sind. Wir sind bereit, auch über Maßnahmen zu reden, die erst in Zukunft umsetzbar sind, wie zum Beispiel über wettbewerbsbedingte Reformen der Gebührenordnungen der freien Berufe, über die Aufhebung der Schornsteinfegerbereichszuordnungen

(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)

und über Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Wir können auch die Urlaubskassen ganzer Berufsgruppen auf den Prüfstand stellen und über eine Neuregelung der Arbeitsstättenverordnung nachdenken, in der vieles doppelt geregelt ist. Wir müssen außerdem das Berichts- und das Beauftragtenwesen neu ordnen. Eine riesige Aufgabe liegt vor uns; denn es müssen Tausende Regelungen geprüft werden. Meine Fraktionskollegen sind in dieser Woche schon in Vorlage gegangen. Wir werden das weiterverfolgen. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen dort, wo Regelungen vereinfacht werden sollen, jede Kooperation zu.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zur Wahrheit gehört bei aller Freude über die Neuordnung des Bereichs der 400- und 800-Euro-Jobs aber auch, dass es viel besser gewesen wäre, die Zeitarbeitnehmerbranche nicht in die Tarifhoheit hineinzubringen. Es waren doch einfachere Lösungen vorhanden, mit denen wir vorangekommen wären.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Fragen, wie wir den Prozess der Lohnfindung gestalten sollen, wie wir Menschen in Arbeit bringen können und wie wir die Aussichten von Beschäftigten und Neueinzustellenden verbessern können, sind zentral. Herr Bundeskanzler - ich habe Ihnen mit großer Aufmerksamkeit zugehört -, Sie haben sich ja fast bis an das Notwendige heranbewegen wollen, bevor wahrscheinlich der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering als Abgeordneter in der Fraktion gesprochen hätte und ein anderer sagen muss: Franz, so geht das nicht! Ich sage Ihnen voraus: Wir werden in Deutschland betriebliche Bündnisse für Arbeit brauchen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und zwar auf einer rechtlich sicheren Grundlage, damit die Betriebe, die solche Bündnisse eingehen, nicht anschließend mit Klagen der Gewerkschaftszentralen rechnen müssen. Die Menschen, die solche Regelungen eingehen, brauchen Rechtssicherheit. Deshalb müssen wir das Tarifvertragsrecht und das Betriebsverfassungsgesetz ändern. Zu beidem konnten Sie sich nicht durchringen. Ich bedauere das. Wir wären dazu bereit gewesen, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit kein Missverständnis entsteht: Wir sind genauso wie Sie der Meinung, dass die Betriebsräte in diesem Land Hervorragendes leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie aber nicht!)

Ich weiß das aus den neuen und den alten Bundesländern. Aber die Welt hat sich verändert.

(Zurufe von der SPD: Ah! Ah!)

Die deutschen Betriebe stehen in einem unmittelbaren Wettbewerb mit Betrieben aus der ganzen Welt. Deshalb brauchen sie mehr rechtliche Möglichkeiten und deshalb hätten Sie heute springen und betriebliche Bündnisse für Arbeit ermöglichen sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich nehme den Kündigungsschutz als Beispiel. Ich habe erwartet, dass Sie, Herr Bundeskanzler, heute klipp und klar sagen, welche Variante in welchem Umfang Sie wollen. Wir sind aber einigermaßen ratlos zurückgelassen worden.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat er doch gesagt! Sie müssen zuhören! Das liegt an Ihrer Wahrnehmung! Er hat erklärt, was er will!)

- Entschuldigung, ob Puffermodell oder nicht, es sind drei Varianten vorgeschlagen worden. - Wir schlagen Ihnen eine eindeutige und klare Variante vor, die allen hilft, die einen neuen Arbeitsplatz bekommen sollen: Schon bei der Einstellung soll der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer optional vereinbaren können, ob im Fall einer betriebsbedingten Kündigung eine Abfindung vereinbart wird oder ob der normale Kündigungsschutz gilt. Das ist eine faire Lösung, die Rechtssicherheit sowohl für denjenigen, der einstellt, als auch für denjenigen, der eingestellt wird, schafft und die außerdem zusätzliche Bürokratie verhindert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es bedarf noch einer dritten Leitidee. Wir brauchen konsequente Leistungsanreize. Wer in diesem Lande arbeitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Wer mehr leistet, muss mehr haben, als wenn er weniger leistet. Das muss die Devise auf allen Ebenen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb, Herr Bundeskanzler, sind wir mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einverstanden. Sie haben sich etwas verklausuliert ausgedrückt, als Sie sagten, dass dies "in der Regel" auf dem Niveau der Sozialhilfe erfolgen solle. Wir sagen: Es soll auf dem Sozialhilfeniveau erfolgen. Wir sagen des Weiteren, dass denjenigen, die eine bestimmte Arbeit, die ihnen angeboten wird, nicht annehmen, die Sozialhilfe um 25 Prozent gekürzt werden soll. Wir müssen zusätzlich in die Lage kommen, dass jedem, der arbeitsfähig ist, ein Angebot gemacht werden muss, und sei es eine gemeinnützige Tätigkeit, damit wir von der Sozialhilfe wegkommen und jeder die Chance erhält, eine zumutbare Arbeit anzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist die Aufgabe, zu der wir kommen müssen. Warum müssen wir zu dieser Aufgabe kommen? Wir müssen deshalb dazu kommen, weil es notwendig ist, dass wir in unserem Lande auch wieder Dienstleistungen möglich machen, für die die Lohnangebote heute so liegen, dass sie nicht attraktiv sind und deshalb in Fremdarbeit oder Schwarzarbeit durchgeführt werden. Das ist die Aufgabe, gerade um Menschen, die einfache Tätigkeiten verrichten möchten, wirklich eine Chance in unserem Land zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber es kommt noch etwas hinzu, und da bin ich sehr enttäuscht von Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Sie haben uns nicht gesagt, wie Sie die einen Erwerbsfähigen, die anderen Erwerbsfähigen und die Nichterwerbsfähigen zwischen den Kommunen und der Bundesanstalt für Arbeit aufteilen wollen. Das Ganze soll möglichst bald im Gesetzblatt stehen. Wann möchten Sie das denn genau tun? Ich hätte nach Ihrer heutigen Rede erwartet, dass wir konkret wissen, was die Aufgaben der Kommunen sind, welches Geld sie dafür erhalten, was die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit ist, wo die Jobcenter angesiedelt sind und wie das alles funktionieren wird. Wir sind bei dieser Debatte an dieser Stelle keinen Schritt weiter, als wir es gestern waren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir sind auch der Meinung, dass das Arbeitslosengeld gekürzt werden sollte. Wir wollen insgesamt einen Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 5 Prozent.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit Herrn Stoibers Vorschlag?)

Aber ich glaube, dass wir dies intelligent machen könnten. Wir haben überlegt, dass eine Kürzung des Arbeitslosengeldes so aussehen muss, dass die Anreize, eine Beschäftigung wieder aufzunehmen, steigen. Das könnte durch eine Karenzzeit in den ersten zwei Wochen geschehen, in denen man den Bezug auf Darlehensbasis ermöglichen kann, das könnte auch durch eine degressive Gestaltung des Arbeitslosengeldes geschehen, bei der man den Anreiz zur Arbeitsaufnahme bei Auslaufen des Arbeitslosengeldes vergrößern kann. Das könnte man natürlich - da haben Sie einen Ansatz, den man noch ausarbeiten kann - machen, indem man das Alter, die Zugehörigkeit zum Betrieb und die Dauer der Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung berücksichtigt. Das wäre ein intelligenter Vorschlag.

(Beifall bei der CDU/CSU - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie die Bürokratie abbauen? - Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so kompliziert, das versteht kein Mensch!)

Aber ich sage auch: Leistungsanreize fördern heißt auch, etwas im steuerlichen Bereich zu tun. Wenn Sie eine Agenda für 2010 vorschlagen und kein Wort über die bisher schon verabschiedeten Steuerreformstufen hinaus sagen, dann ist das zu wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen ein einfaches, ein transparentes, ein wirklich niedriges Steuersystem. Das wird noch viele Aufgaben mit sich bringen.

(Gernot Erler [SPD]: Das sagen Sie seit 100 Jahren!)

- Ich bitte Sie, wir hatten mit den Petersberger Beschlüssen einen hervorragenden Einstieg. Sie haben sie verhindert. Darauf können wir zurückkommen, daran können wir anknüpfen und dann weitermachen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie waren letztlich bei der Zinsabgeltungsteuer wieder ganz unkonkret und haben zwar von Kontrollen, aber unbürokratischen und dennoch wirksamen Kontrollen gesprochen. Das erinnert an den Spruch: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. So kommen wir doch nicht weiter. Ich hatte von Ihnen erwartet, dass Sie klipp und klar sagen: Kontrollmitteilungen in unserem Steuersystem führen nicht dazu, dass das Geld zurückkommt, sondern dazu, dass noch mehr Geld nach draußen geht. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die vierte Leitidee hat etwas damit zu tun, dass wir im internationalen Wettbewerb stehen, dass die deutschen Sozialsysteme an den Faktor Arbeit gekoppelt sind und dass dies unsere Arbeit teuer macht, weswegen Arbeitsplätze oft nur vergleichsweise schwer geschaffen werden können. Aus genau diesem Grunde müssen die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent liegen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Herr Bundeskanzler, ich hätte bei der Beschreibung einer Agenda 2010 schon gern gehört, ob Sie sich diesem Ziel noch verpflichtet fühlen oder ob es Sie nicht mehr interessiert, weil Sie sagen, dass es lediglich Teil der Koalitionsvereinbarung von 1998 war.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es ein wenig konkreter gemacht als Sie!)

Ich halte dieses Ziel nach wie vor für richtig und wichtig. Es muss kurzfristig erreicht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben in diesem Zusammenhang das Ziel angesprochen, die Krankenkassenbeiträge zu senken. Es ist richtig, dass die Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinken müssen. Sie haben sich dem Gedanken von Selbstbehalten genähert. Das begrüße ich ausdrücklich.

(Zuruf von der SPD: Aber?)

Sie müssen die Höhe der Einsparungen allerdings quantifizieren. Bei einer Senkung der Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent bestehen im Bundeshaushalt nicht unendlich viele Spielräume, die versicherungsfremden Leistungen steuerlich zu finanzieren. Eine solche Finanzierung versicherungsfremder Leistungen unterstützen wir grundsätzlich.

Durch die Herausnahme einiger Leistungen aus dem Angebot der gesetzlichen Krankenkassen - Sie haben dazu einen Vorschlag gemacht - und durch die Einführung von Selbstbehalten muss es zu Einsparungen in Höhe von fast 2 Prozentpunkten kommen, damit die Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinken können. Im Bereich des Krankengeldes lassen sich 7,7 Milliarden Euro einsparen. Dadurch lässt sich der Beitragssatz um 0,8 Prozentpunkte senken. Entsprechend groß müssen der Selbstbehalt und die durch den Wettbewerb hervorgerufenen Einsparungen sein, damit Sie Ihr Ziel wirklich erreichen. Wir haben uns mit diesem Thema intensiv befasst. Sie werden Ihr Ziel durch die Umsetzung dessen, was Sie vorgeschlagen haben, noch nicht erreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir verurteilen Ihr Vorhaben, dafür zu sorgen, dass Krankengeldzahlungen privat versichert werden müssen, nicht sofort; aber bitte diffamieren Sie dann auch nicht unseren Vorschlag, zu prüfen, ob man eine solche Regelung auch für den Bereich der Zahnbehandlung einführen kann.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Und zwar sehr günstig! - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mut zur Lücke!)

Es gibt in Europa viele Länder, zum Beispiel Norwegen, in denen die Zahnbehandlung privat versichert werden muss. In diesen Ländern gibt es ganze Jahrgänge von Kindern, die dank einer entsprechenden Prävention kariesfrei sind. Lassen Sie uns an dieser Stelle wirklich nicht die alten sozialdemokratischen Neiddiskussionen führen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen also auf unter 13 Prozent Krankenkassenbeiträge, 5 Prozent Arbeitslosenversicherungsbeiträge und deutlich unter 20 Prozent Rentenversicherungsbeiträge kommen. Wenn die Prognosen richtig sind - daran gibt es keinen Zweifel -, dann werden die Rentenversicherungsbeiträge im Sommer nicht mehr bei 19,5, sondern bei 19,9 Prozent liegen, Herr Bundeskanzler. Dazu kommen 1,5 Prozent Beiträge für die Pflegeversicherung, bei der es noch viele Probleme gibt.

Zur Rente möchte ich Folgendes sagen: Sie haben den von uns eingeführten demographischen Faktor fälschlicherweise abgeschafft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Ein Riesenfehler!)

Wir haben schon damals gesagt, dass selbst der von uns eingeführte demographische Faktor der realen Alterung der deutschen Bevölkerung noch nicht im ausreichenden Maße gerecht wird. Lassen Sie uns gemeinsam wieder einen ehrlichen demographischen Faktor ins Visier nehmen, damit man wirklich realistische Rentenprognosen vornehmen kann!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist - ich sage das vollkommen unaufgeregt; auch wir hätten diesen Weg eingeschlagen, wenn wir weiter regiert hätten - vom Grundsatz her richtig. Wir kritisieren, dass dank Ihrer Politik ein bürokratisches Monster daraus entstanden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schon heute könnten 30 Prozent der Bevölkerung bereit sein, ein Angebot der staatlich geförderten Altersvorsorge in Anspruch zu nehmen, wenn das Ganze nicht so kompliziert wäre. Das ist der Punkt. Wir sind jederzeit bereit, zu einer Entbürokratisierung auf diesem Gebiet beizutragen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

In der nächsten Zeit werden wir über die Zukunft der sozialen Sicherung sprechen. Vielleicht kann einer der Nachredner einmal klarstellen, ob Sie das Ziel haben, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken oder nicht. Ist das Ihr Anspruch oder nicht? Ich habe eine solche Klarstellung vermisst und halte dies für ein großes Versäumnis in dieser Regierungserklärung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, wir brauchen eine fünfte Leitidee. Wir müssen Vertrauen in die Menschen setzen und den Rückzug des Staates ermöglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sie haben heute hier ein Investitionsprogramm vorgeschlagen. Vor einem oder anderthalb Jahren haben sogar Sie selbst in Ihren eigenen Ansprachen derartige Programme noch ins Abseits gestellt. Sie haben auf dem Deutschen Baugewerbetag gesagt, dass die Bauindustrie schrumpfen müsse und dass es keinen Sinn mache, sie durch Strohfeuerprogramme - das waren Ihre eigenen Worte - weiter in eine Situation zu versetzen,

(Zuruf von der SPD: Da hatte er Recht!)

die unrealistisch sei.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sind keine Strohfeuer!)

- Jetzt sagen Sie, das seien keine Strohfeuerprogramme. Ich finde, es ist eine ziemliche Unverschämtheit, die Kommunen in eine finanzielle Lage zu bringen, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie schlechter war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei der SPD)

Wir haben hier schon mehrmals Anträge eingebracht, in denen wir fordern, die Gewerbesteuerumlage wieder auf den alten Stand anzuheben. Stimmen Sie zu! Das kostet nichts, aber es hilft den Kommunen, und zwar dauerhaft und real, nicht nur einmalig durch ein kurzfristiges Programm.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist der richtige Weg!)

Fast ein bisschen zynisch finde ich an diesem Programm, dass viele Kommunen - das wissen Sie genauso gut wie wir - so hoch verschuldet sind, dass sie nicht die Erlaubnis bekommen werden, wieder einen Kredit aufzunehmen.

(Gernot Erler [SPD]: Dazu hat er doch etwas gesagt!)

- Dazu kann man gar nichts sagen, weil das der Kommunalaufsicht unterliegt und weil ich nicht weiß, ob Sie möchten, dass über die Verschuldung der Kommunen die Legitimation dafür geschaffen wird, dass die Einhaltung der Stabilitätskriterien von Brüssel ausgesetzt werden kann und Herr Eichel wieder sagen kann, die Kommunen seien es gewesen und nicht er. Das ist ein komischer Verschiebebahnhof in Deutschland, den ich nicht akzeptieren kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage Ihnen nach wie vor: Wenn wir vorankommen wollen, dann müssen wir uns einer Staatsquote von 40 Prozent nähern. Das wird dauern und ohne Wachstum nicht gehen. Aber es ist kein abwegiger, sondern ein richtiger Anspruch, dass die Menschen in diesem Lande von jedem verdienten Euro 60 Cent selbst verwalten dürfen und nur 40 Cent durch den Staat verwaltet werden. Es ist ein Fehler von Herrn Müntefering, zu glauben, die Privatpersonen müssten erst dem Staat seinen Anteil geben und behielten nur den Rest. Wir müssen an die Menschen glauben, an ihre Kreativität, ihr Leben selbst zu gestalten. Das ist der große Unterschied zwischen Union und Sozialdemokraten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit statt Müntefering!)

Wir wissen, dass wir die öffentlichen Haushalte sanieren müssen. Das wird nur mit Wachstum funktionieren. Deshalb müssen alle Wachstumskräfte gestärkt werden. Wir müssen privatisieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, die Abwasserinvestitionen könnten über Ihr Investitionsprogramm erfolgen. Ich hoffe, Sie lassen die Mittel auch den privaten Abwasserbetreibern zukommen und nicht nur den kommunalen;

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

denn wir wollen, dass Aufgaben, die privat genauso gut wie kommunal erledigt werden können, privat erledigt werden. Gebt den Privaten eine Chance in diesem Land; das ist die Aufgabe!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir brauchen eine klarere Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Ebenen, zwischen Kommunen und Ländern und zwischen Bund und Ländern. Wenn Sie den Zeitraum bis 2010 in Betracht nehmen und kein einziges Wort zu einer Föderalismusreform sagen, dann wird es auch mit der Staatsquote unter 40 Prozent nichts werden.

Bei uns steht eine solche Föderalismusreform auf der Tagesordnung. Wir wären sogar bereit, einmal darüber nachzudenken, für eine solche Aufgabe einen Konvent zu schaffen und Leute zu beauftragen - weil wir alle befangen sind -, sich in Form dieses Konvents aus ihrer Erfahrung unvoreingenommen das Wirrwarr von Zuständigkeiten anzusehen, um herauszufinden, wie wir die Aufgabenverteilung in diesem Lande besser organisieren können. Die Union macht Ihnen hier ein Angebot.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir benötigen also fünf Leitbilder: konsequent Investitionen in die Zukunft tätigen, Leistungsanreize konsequent durchsetzen und jede politische Maßnahme daraufhin überprüfen, Spaltung der Gesellschaft in Arbeitende und Arbeitslose überwinden, Arbeit im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig machen und die Staatsquote unter 40 Prozent drücken. An diesen Dingen wird sich entscheiden, ob Deutschland wirklich einen Platz an der Spitze innerhalb Europas erlangen wird oder dort bleibt, wo es ist.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir wollen Stoiber!)

Um diesen Prozess für die Menschen nachvollziehbar zu machen, biete ich Ihnen an, zunächst bis zum Jahre 2010 in diesem Hause jedes Jahr eine Debatte über folgende sechs Punkte zu führen: Wachstum, Beschäftigung, Investitionsquote, Höhe der Steuersätze, Lohnnebenkosten und Staatsquote. Wir sollten ein Benchmarking einführen und unabhängige Fachleute damit beauftragen, die notwendigen Zahlen zusammenzustellen, um damit zu zeigen, ob wir unseren eigenen Ansprüchen in Bezug auf unsere Politik selber gerecht werden. Nur so werden wir die Menschen auf dem Reformweg mitnehmen können. Sie müssen sehen, dass die notwendigen Änderungen zu ihrem eigenen Vorteil durchgeführt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb muss das Credo der Wirtschafts- und Sozialpolitik lauten: Freiraum, Eigenverantwortung, mehr Luft zum Atmen. Dieses Credo ist wichtig, denn dann, wenn wir nicht danach handeln, werden wir denjenigen, die in diesem Lande Hilfe brauchen, nicht mehr helfen können. Ich möchte nicht, dass die Behinderten in diesem Lande immer von Sozialhilfe abhängig sind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe. Ich möchte nicht, dass alleinerziehende Mütter von der Sozialhilfe abhängig sind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit das gelingt, müssen Sie denen, die etwas schaffen können, den Freiraum geben, auch etwas schaffen zu dürfen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel Kinderbetreuung!)

Der Staat muss sich im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückziehen, damit dort Hilfe geleistet werden kann, wo Hilfe notwendig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])

Das entspricht unserem Verständnis von Gerechtigkeit. Ich erlebe häufig, dass heute vielen, die vielleicht Hilfe bräuchten, nicht mehr so gut geholfen werden kann. 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch die Schwarzarbeit erwirtschaftet, obwohl Schwarzarbeit die unsolidarischste Art von Tätigkeit ist. Das muss aufhören, denn dadurch konzentriert sich Solidarität auf immer weniger Schultern in diesem Land und dadurch fallen Menschen aus dem solidarischen System heraus.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die andere Seite der Medaille des 21. Jahrhunderts ist: So wie sich der Staat im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückziehen muss, muss er sich stärker engagieren, wenn es um innere und äußere Sicherheit geht. Das Ende des kalten Krieges hat uns eine Welt gebracht, in der die Bedrohungen zwar anders sind, aber Bedrohungen bleiben, mit denen wir uns werden auseinander setzen und für die wir Abschreckungskapazitäten entwickeln müssen. Diese Bedrohungen müssen von uns angegangen werden. Dafür ist die Bundesrepublik Deutschland und dafür ist Europa insgesamt noch nicht gewappnet.

Deshalb geht es auch um die zweiten Gründerjahre dieser Republik bezüglich einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie haben vom Frieden gesprochen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da sind wir jetzt sehr gespannt!)

Ich kann nur sagen: Das, was wir in den letzten Monaten mit Blick auf den Irak erlebt haben, ist ein Trauerspiel.

(Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Reise nach Washington! - Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

- Das habe ich mir gedacht. Herr Volmer, die Armseligkeit kennt bei Ihnen keine Grenzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist wirklich traurig. Sie haben doch vier Jahre im Auswärtigen Amt gesessen und müssten wissen, dass spätestens seit dem 11. September 2001 jedem klar sein muss, dass sich die Bedrohungen in dieser Welt zwar verändert haben, dass sie aber real und nicht fiktiv sind.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt sagen Sie uns einmal: Was wollen Sie?)


Was in Sachen Irak passiert ist, ist ein Trauerspiel. Denn wir müssen uns hier und heute damit auseinander setzen, was die "Financial Times Deutschland" dazu am Dienstag geschrieben hat: Leider steht, noch bevor überhaupt etwas passiert ist, der Sieger der Auseinandersetzung fest: Saddam Hussein.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Der Schaden, den der Diktator dem Westen bereits zugefügt hat, ist kaum zu ermessen. - Ich teile diese Einschätzung.

(Beifall bei der CDU/CSU - Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Sieger heißt auf jeden Fall nicht Schröder!)

Dabei geht es um die Europäische Union, dabei geht es um die NATO und es geht um die Rolle der UNO.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, es geht um den Frieden!)

Ich sage Ihnen: Wir haben die Aufgabe - das werden wir vonseiten der Union tun - -

(Bundeskanzler Gerhard Schröder bekommt einen Blumenstrauß überreicht - Unruhe bei der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine Unverschämtheit! - Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine mutwillige Störung!)

- Ich finde, wir sollten ein bisschen großzügig sein. Wer weiß, ob der Kanzler sonst Blumen bekommt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich denke, wir können trotz aller Kritik darüber hinwegsehen.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da zeigt sich der rot-grüne Kindergarten! Und die Feigheit der Präsidentin!)

Zurück zur Außenpolitik. Ich sage in aller Ernsthaftigkeit: Das 21. Jahrhundert und die neue Situation Deutschlands nach der Wiedervereinigung fordern von der Außenpolitik, eine klare Orientierung und feste Koordinaten zu geben. Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundeskanzler: Deutsche Außenpolitik wird in Berlin gemacht. Ich füge hinzu: Deutsche Außenpolitik sollte deutschen Interessen gelten.

(Zuruf von der SPD: Ja! - Ludwig Stiegler [SPD]: Das hätten Sie sich einmal in Washington überlegen sollen!)

Zu diesen deutschen Interessen gehören für mich zwei Säulen. Die eine Säule ist ein gutes Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deutschlands historische Krux war die Tatsache, dass es Zeiten gab, in denen Deutschland die Balance nicht geschafft hat und in denen Deutschland nicht in die Politik seiner Nachbarn eingebunden war. Deshalb heißt es, gute und partnerschaftliche Verhältnisse zu Frankreich

(Ludwig Stiegler [SPD]: Haben wir doch!)

und genauso gute Verhältnisse zu Polen, unserem anderen Nachbarn, zu haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Haben wir die nicht?)

Einige von Ihnen werden in diesem Saal gesessen haben, als am 8. Mai des Jahres 1995 der damalige polnische Außenminister Bartoszewski eindringlich und für mich emotional sehr berührend zu uns gesagt hat: Bitte machen Sie nie weder eine Politik von Deutschland und Frankreich mit Russland, die über die Köpfe von Polen hinweggeht. - Lassen Sie uns das gemeinsam beherzigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei der SPD)

Bei aller Partnerschaft mit Frankreich haben wir als das größte Land Europas die Aufgabe, uns um die kleinen Länder in Europa zu kümmern.

(Jörg Tauss [SPD]: Andorra!)

- "Andorra!" Sagen Sie einmal: Wie bekloppt sind Sie eigentlich?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir hören Ihnen zu, wenn es um ernsthafte Dinge geht. Wenn Sie in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht aufpassen, dann werden Sie das, was wir in 50 Jahren deutscher Politik an Vertrauen, an Berechenbarkeit und an Verlässlichkeit aufgebaut haben, in kurzer Zeit verspielen. Deshalb lassen Sie uns in aller Ernsthaftigkeit - ich sage das mit großem Nachdruck - über diese Fragen von Krieg und Frieden und der Zukunft Deutschlands in diesem Hause sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dazu gehört eine politische Union in Europa. Deutschland muss der Motor dieser politischen Union sein. Bitte schauen Sie sich an, wo Europa im Augenblick steht: Es sind Bündnisse in Bündnissen gebildet worden. Es gibt Spaltungen und Achsen außerhalb der Bündnisse. Ich sage Ihnen ganz klar: Dies ist nicht gut für das Projekt einer politischen Union. Deshalb muss die Situation verändert werden. Ich sage dies ohne jede Aggressivität, weil mir Europa am Herzen liegt. Aber ich sage auch: Dazu gehören die neuen Mitgliedstaaten genauso wie die alten. Dazu gehört ferner ein deutscher Bundeskanzler, der über die Lippen bringen sollte, dass die Worte des Präsidenten der Französischen Republik nicht geeignet waren, das Selbstbewusstsein und das Selbstverständnis der osteuropäischen Nachbarn richtig zu beschreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Neben der europäischen gehört die transatlantische Säule dazu. Für mich ist das ganz unverzichtbar. Wenn Sie sich einmal über die wirklichen sicherheitspolitischen Fähigkeiten Europas Gedanken machen, dann wissen Sie, dass wir einen Sicherheitsverbund brauchen. Deshalb brauchen wir die NATO, und zwar als eine funktionsfähige, handlungsfähige Gemeinschaft, die unsere gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen vertreten kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer sich vielleicht manchmal dem Trugschluss hingibt, unser Europa sei so sicher, dass wir nie wieder Unterstützung brauchen, der hat beim furchtbaren Tod von Zoran Djindjic vorgestern auf ganz erschreckende Weise erfahren müssen, wie zart die Sicherheit und der Friede selbst auf unserem Kontinent sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie uns deshalb, meine Damen und Herren, mit den Institutionen sorgsam umgehen! Wir brauchen auch in Zukunft eine NATO, genauso wie wir eine funktionsfähige UNO brauchen.

Nun sagt der Bundesaußenminister schon wieder: über den Frieden nicht ein Wort! Herr Bundesaußenminister, ich kann Ihnen Folgendes sagen: Wenn eine unionsgeführte Regierung seit September letzten Jahres die Geschicke dieses Landes gelenkt hätte

(Peter Dreßen [SPD]: Gott sei Dank war das nicht so! - Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hätten wir schon längst einen Krieg im Irak! Und deutsche Soldaten! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

- wenn Sie von uns eine Position erwarten, dürfen wir, so finde ich, sehr wohl einmal darauf hinweisen, was wir anders gemacht hätten -, wäre im Umgang mit dem Konflikt im Irak die militärische Option als letztes Mittel niemals ausgeschlossen worden.

(Jörg Tauss [SPD]: Das denken wir uns! - Hans-Peter Kemper [SPD]: Sie wären vorneweg gelaufen! - Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen wäre das gar keine Option gewesen!)

Wir hätten das, was Sie erst im Februar gemacht haben, nämlich die europäischen Staats- und Regierungschefs zu einer gemeinsamen Erklärung zu bewegen, schon im September initiiert. Die Erklärung vom Februar hätte schon im September stehen können; daran besteht überhaupt kein Zweifel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir hätten uns jeden Monat erneut getroffen und mit dieser gemeinsamen europäischen Haltung wären wir in ein Gespräch mit den Amerikanern gegangen. Ich bin ganz sicher, wir hätten eine gemeinsame Position gefunden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Gernot Erler [SPD]: Weltpolitik zum Selbermachen! - Joseph Fischer, Bundesminister: Welch ein Geeiere! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Sie auf der Regierungsbank einmal ruhig, Herr Minister!)

Wir hätten von Anfang an eine Befristung der Inspektionen befürwortet.

Vielleicht kann man dann, wenn man so lange Minister ist wie Sie, Herr Fischer, nicht mehr gut zuhören,

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dafür umso besser dazwischen quatschen!)

aber ich sage es Ihnen trotzdem: Wenn Sie einer Befristung der Inspektionen zugestimmt hätten, dann hätten Sie eine Entwicklung beeinflussen können, die sich heute als eines der großen Dramen herausstellt, dann hätten Sie nämlich die Parallelität des Aufbaus einer militärischen Drohkulisse und des Zeitbedarfs der Inspektoren erkannt und beides miteinander koordinieren können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Chefinspekteur Blix sagt heute: Ich weiß, ohne eine militärische Drohkulisse habe ich keinen Erfolg. - Dass wir die anglo-amerikanische Drohkulisse brauchen, gibt auch der französische Außenminister zu, dennoch opponiert er gegen England und Amerika. Diese Art von Arbeitsaufteilung - die einen stellen die militärischen Kräfte und die anderen sind für unbefristete Inspektionen - geht in einer Gemeinsamkeit von Partnern nicht auf. Das ist der zentrale Vorwurf, den wir Ihnen machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP] - Ludwig Stiegler [SPD]: Ein Mangel an geistiger Weite!)

Deshalb kann ich bei allem, was passiert ist, nur die ganz intensive Bitte an die Bundesregierung richten: Versuchen Sie in den nächsten Tagen, in der UNO - auch unter Aufbietung deutscher Kompromissbereitschaft - eine Lösung zu finden, welche die UNO stärkt und die es möglich macht, dass Saddam Hussein endlich wieder Angst vor der westlichen Staatengemeinschaft hat. Die Wahrheit nämlich ist: Derzeit kann er davon leben, dass sie gespalten ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage in aller Klarheit und mit allem Nachdruck: Unser Gegner ist nicht der amerikanische Präsident.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Unser Gegner ist noch immer Saddam Hussein. Ich glaube, darüber gibt es Einvernehmen in diesem Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ludwig Stiegler [SPD]: Diese Neuigkeiten haben wir gebraucht!)

Gestern wurde in einer AP-Meldung beschrieben, wie in einer Art öffentlicher Zeremonie - das muss man sich wirklich einmal vor Augen führen - im Auftrag von Saddam Hussein 260 000 Dollar an 26 Familien von palästinensischen Selbstmordattentätern als Lohn und Dank für das "Märtyrertum" übergeben wurden. Das macht deutlich, dass die Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, real und nicht fiktiv ist. Ich bitte Sie, das jeden Tag zu bedenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Sozialdemokratie in diesem Lande hat die Aufgaben, die aus dem Leben in einer völlig neuen Zeit erwachsen, nicht ausreichend verstanden.

(Zuruf von der SPD: Aber Sie haben sie verstanden?)

Die innere Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutschland kann wieder in Ordnung gebracht werden. Dafür aber brauchen Sie Mut, Ideen und vor allen Dingen ein Konzept.

Meine Damen und Herren, Sie wurden in den vergangenen Tagen von Parteienforschern, aber auch von Ihren eigenen Parteimitgliedern mehrfach daran erinnert, dass die Krux Ihres politischen Handelns darin besteht, dass Sie keine Werteordnung haben, nach der Sie Ihre Entscheidungen ausrichten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen bei der SPD)

Deshalb - so hat es sinngemäß der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident gesagt - können Hinz und Kunz verkünden, was immer sie wollen. Sie haben keinen roten Faden, weil die innere Werteordnung fehlt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

- Lesen Sie, was im "Stern" dazu steht!

(Ludwig Stiegler [SPD]: Lesen Sie die Aussagen von Herrn Merz!)

Ich bin froh, dass hier heute ein neuer niedersächsischer Ministerpräsident anwesend ist.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Der redet auch anders als Herr Merz!)

Ich hoffe, dass Sie mit Ihrer 140-jährigen Tradition, die Sie im Mai feiern können, eines Tages die Herausforderungen und die Dimension der Herausforderungen, die sich uns außen- und innenpolitisch im 21. Jahrhundert stellen, vollständig verstehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Was wir heute gehört haben, waren punktuelle Antworten, die bei weitem nicht ausreichen, um das aus unserem Land zu machen, was wir alle in diesem Haus aus ihm machen wollen. Wir von der Union sind mit unserem Herzen und dem Verständnis für die Menschen dabei, wenn es darum geht, die Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Fähigkeiten voll entfalten zu können, und zwar im Sinne des Gemeinwohls.

Lassen Sie die Menschen dazu in der Lage sein! Lassen Sie uns ihnen die Kraft geben! Lassen Sie uns das unterstützen, was in dieser Bundesrepublik Deutschland Unterstützung braucht! Lassen Sie uns den Menschen Optimismus geben! Lassen Sie eine Aufbruchstimmung aufkommen! Wecken Sie den Gründergeist! Dann wird es mit Deutschland wieder aufwärts gehen. Wir von der Union arbeiten daran, mit Herz und Verstand.

Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

 

Dieses Dokument ist Bestandteil von
Zur documentArchiv.de-Hauptseite

Weitere Dokumente finden Sie in den Rubriken


19. Jahrhundert

Deutsches Kaiserreich

Weimarer Republik

Nationalsozialismus

Bundesrepublik Deutschland

Deutsche Demokratische Republik

International

 

Quelle: Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 32. Sitzung vom 14.03.2003.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der Bundesvorsitzenden der CDU und Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Dr. Angela Merkel zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung" (14.03.2003), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2003/rede_merkel_03-14.html, Stand: aktuelles Datum.


Diese Dokumente könnten Sie auch interessieren:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) "Mut zum Frieden und zur Veränderung" (14.03.2003)
Reden zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung" im Deutschen Bundestag (14.03.2003)
- Franz Müntefering, Vorsitzender der SPD-Fraktion
- Dr. Guido Westerwelle, Bundesvorsitzender der FDP
- Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen
- Dr. Edmund Stoiber (CSU), Ministerpräsident des Freistaats Bayern
- Wolfgang Clement (SPD), Bundeswirtschafts- und Arbeitminister
- Dr. Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender der FDP-Fraktion
- Dr. Thea Dückert, stellvertretende Vorsitzende und arbeitsmarktpolitischen Sprecherin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Dr. Gesine Lötzsch (PDS), fraktionslos


Dieses Dokument drucken!
Dieses Dokument weiterempfehlen!
Zur Übersicht »Bundesrepublik Deutschland« zurück!
Die Navigationsleiste von documentArchiv.de laden!


Letzte Änderung: 03.03.2004
Copyright © 2003-2004 documentArchiv.de