Rede der stellvertretenden Vorsitzenden und arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Thea Dückert zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung"

vom 14. März 2003


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Die Spielregeln sind manchmal grausam. Nun hat mit einer ähnlich kurzen Redezeit die Kollegin Dr. Thea Dückert für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Da gibt es was zu sagen!)


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gerhardt, das ist ja gerade das Problem. Sie haben seit Jahrzehnten Probleme benannt, aber nichts getan. Deswegen ist der Berg so groß, an den wir herangehen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Der Kanzler hat heute ein Programm mit dem Titel vorgelegt: "Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung". Ich denke, was er uns heute vorgestellt hat, ist vor allen Dingen durch den Mut zur Wahrheit gekennzeichnet gewesen, durch den Mut, ein Gesamtkonzept vorzulegen, das nicht nur Annehmlichkeiten enthält. Es hat deshalb nicht nur Annehmlichkeiten, weil wir es mit vielfältigen Problemen zu tun haben, für die es nicht nur eine einzige Lösung gibt, sondern für deren Lösung es eines Gesamtkonzeptes bedarf.

Wir haben einen riesenhaften Schuldenstand. Der ist ein richtiges Korsett. Vor dem Hintergrund dieses riesenhaften Schuldenstands können wir die notwendigen Strukturreformen nur dann machen, wenn wir zukünftig und langfristig das Prinzip der nachhaltigen Finanzpolitik durchhalten. Das ist das Schwierige vor dem Hintergrund der mit 4,7 Millionen viel zu hohen Zahl der registrierten Arbeitslosen, der großen Zahl der Dauerarbeitslosen und des Problems der demographischen Entwicklung, die unsere Sozialversicherungssysteme an die Grenze führt. In diesem Zusammenhang braucht es in der Tat Mut zur Veränderung.


Nachdem ich mir angehört hatte, was die Opposition heute präsentiert hat, war ich doch ziemlich irritiert. Ich habe gestern in der Zeitung gelesen, dass Herr Stoiber - man könnte von einem "Reformen stoppen" sprechen - ganz schnell das Akutprogramm, ein Reformprojekt, vorgestellt hat. Davon war die Union überrascht, weil vieles in diesem Programm mit den Parteikollegen offenbar gar nicht abgestimmt ist. Mich hat allerdings irritiert, dass Sie angesichts unserer großen Verantwortung, gerade in Bezug auf die Zukunft, hier nicht den Mut gehabt haben, ein Gesamtkonzept vorzulegen; vielmehr haben Sie wiederum nur mit kleinkarierter Kritik an Details Ihre Konzepte dargelegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das, was Frau Merkel hier vorgetragen hat, war eher ein "wehendes Vakuum", wie es Lichtenberg einmal beschrieben hat, und nicht einmal heiße Luft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Bei Herrn Stoiber - er hat gestern immerhin das "Akutprogramm" vorgestellt - war ich erst einmal gespannt, dann aber auch enttäuscht.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt macht erst mal Gesetze und dann redet weiter! Macht erst mal Gesetze und schwafelt nicht.)

Wir haben wieder die alte Leier mit dem Hinweis auf Deutschlands Position als Schlusslicht gehört. Wenn Herr Stoiber häufiger in diesem Parlament wäre, dann hätte er vielleicht mitbekommen, dass es seit Anfang der 90er-Jahre eine Schlusslichtdebatte gibt. Seit 1992 rangiert Deutschland zwischen den Plätzen 15 und 13. Das hat etwas mit den Lasten der deutschen Einheit zu tun.

Außerdem hat Herr Stoiber über die große Anzahl von Insolvenzen in diesem Land gesprochen. Dabei hat er mit dem Zeigefinger auf die Regierung gezeigt. Herr Stoiber - er sitzt vielleicht schon im Flugzeug nach München -, wir alle wissen, dass es die größte Anzahl an Insolvenzen zurzeit im Großraum München gibt. Warum?

(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Wegen Stoiber!)

- Nicht wegen Stoiber. -

(Jörg Tauss [SPD]: Aber auch!)

Das ist so, weil die "Spekulationsblase" geplatzt ist. Nur: Was für München gilt, das gilt auch für die Bundesrepublik insgesamt.

Darüber hinaus habe ich etwas ganz besonders Interessantes gehört: Die OECD wurde sozusagen als Kronzeugin gegen die rot-grüne Regierung und deren Untätigkeit angeführt. Es wurde nämlich darauf hingewiesen, dass etwa 70 Prozent der Wachstumsprobleme, die wir im Moment haben - Stoiber hat sogar von 85 Prozent gesprochen -, strukturelle Probleme seien. Dazu kann ich nur sagen: Das ist richtig. Aber was heißt das denn? Das beweist doch ein weiteres Mal, dass wir es in dieser schwierigen konjunkturellen Situation zugleich mit strukturellen Problemen zu tun haben, die wir aus der Vergangenheit übernommen haben. Man hat es in den 90er-Jahren verschlafen, die notwendigen Strukturreformen der sozialen Sicherungssysteme durchzuführen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie haben die Reform der Rentenversicherung doch zurückgenommen! Das ist doch unglaublich! Sie müssen ein Gesetz vorlegen, Frau Dückert!)

Wenn man sich einmal anschaut, was Sie konkret vorschlagen, dann ist die Verwirrung komplett. Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt müssen wir natürlich auch über den Kündigungsschutz reden. Wir müssen ihn erhalten, aber flexibel gestalten. Das ist vom Kanzler vorgeschlagen worden.

Was macht Herr Stoiber? - Er will ihn für Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten abschaffen. Was macht Frau Merkel? - Sie redet zwar über Kündigungsschutz für Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten, legt sich aber nicht genau fest. Nach Stoibers Konzept dürfte es dort keinen Kündigungsschutz geben. Ich kann nur fragen: Was wollen Sie denn nun?

Stoiber schlägt vor, die Zahlung von Arbeitslosengeld auf zwölf Monate zu beschränken. Das Programm, das sich Frau Merkel vorstellt, sieht mehr Flexibilität vor. Es war nicht ganz nachzuvollziehen, was sie meinte. Auf alle Fälle passen die beiden Konzepte nicht zusammen. Wenn Sie über vernünftige und notwendige Veränderungen am Arbeitsmarkt diskutieren wollen, dann einigen Sie sich zunächst einmal auf ein gemeinsames Projekt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Das einzige gemeinsame Projekt, das Sie zurzeit haben, ist die Blockadepolitik im Bundesrat.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das haben sie auch heute wieder vorgeführt. Das ist genau das Problem. Herr Stoiber hat heute gesagt, Schulden seien die Zinsen von morgen und das finde er nicht gut. Insofern hat er dazugelernt, denn früher hat er im Bundestag etwas anderes gesagt. Aber Sie benennen zwar einzelne Reformschritte, über die man diskutieren kann, reden jedoch gleichzeitig weiterhin neuen Schulden das Wort. Sie machen keine Politik, die Strukturreformen mit einer verantwortlichen, nachhaltigen Finanzpolitik verbindet. Deswegen können Sie das, was Sie einklagen, nämlich Vertrauen in zukünftige Investitionen zu schaffen, nicht erreichen.

Wenn wir Vertrauen in zukünftige Investitionen herstellen wollen, funktioniert das nur auf Basis einer Politik, bei der die Bevölkerung nicht fürchten muss, dass wir übermorgen wieder einen riesigen Schuldenberg mit Zinsen abbezahlen müssen. Wir können Zukunftsinvestitionen nur möglich machen, wenn gleichzeitig eine solide Finanzpolitik sichergestellt ist.

Da sind Sie, meine Damen und Herren von der Union, bei allem Reformeifer in einzelnen Bereichen die Antwort schuldig geblieben. Das ist in Bezug auf die jetzige Situation nicht verantwortungsvoll.


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. - Meine Damen und Herren, wir müssen auf dem Arbeitsmarkt große Schritte gehen. Ich bin froh und begrüße es, dass der Bundeskanzler angekündigt hat, dass wir auch beim Kündigungsschutz Schritte gehen wollen. Ich bin froh, dass hier noch einmal ganz deutlich gesagt worden ist, dass die Veränderungen am Arbeitsmarkt aber nicht dazu führen dürfen, dass zum Beispiel Modellprojekte für jugendliche Arbeitslose gecancelt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin froh und unterstütze mit aller Entschiedenheit, dass wir in der rot-grünen Koalition zwei Zielmarken haben: erstens mit allem, was uns dafür zu Gebote steht, die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent zu senken und zweitens die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken. Denn nur dann, wenn wir die Lohnnebenkosten nachhaltig senken, können wir in kleinen Betrieben zusätzliche Beschäftigung möglich machen und mehr und entschiedener gegen Schwarzarbeit vorgehen.

Last not least: Ich habe mich letztendlich nicht gewundert, dass diejenigen, die immer sagen, der Arbeitsmarkt müsse entrümpelt, es müsse entbürokratisiert werden, nun wiederum diejenigen sind, die den Zunftzopf des Meisterwesens, den wir aus dem vergangenen Jahrhundert übernommen haben, weiter pflegen wollen. Wir wollen ihn frisieren.


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, ich muss Sie nun wirklich bitten.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir wollen damit die Übernahme von Betrieben erleichtern.

Ich danke Ihnen, Herr Präsident.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

 

Dieses Dokument ist Bestandteil von
Zur documentArchiv.de-Hauptseite

Weitere Dokumente finden Sie in den Rubriken


19. Jahrhundert

Deutsches Kaiserreich

Weimarer Republik

Nationalsozialismus

Bundesrepublik Deutschland

Deutsche Demokratische Republik

International

 

Quelle: Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 32. Sitzung vom 14.03.2003.


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der stellvertretenden Vorsitzenden und arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Thea Dückert zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung" (14.03.2003), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2003/rede_dueckert_03-14.html, Stand: aktuelles Datum.


Diese Dokumente könnten Sie auch interessieren:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) "Mut zum Frieden und zur Veränderung" (14.03.2003)
Reden zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers "Mut zum Frieden und zur Veränderung" im Deutschen Bundestag (14.03.2003)
- Dr. Angela Merkel, Bundesvorsitzende der CDU und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion
- Franz Müntefering, Vorsitzender der SPD-Fraktion
- Dr. Guido Westerwelle, Bundesvorsitzender der FDP
- Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen
- Dr. Edmund Stoiber (CSU), Ministerpräsident des Freistaats Bayern
- Wolfgang Clement (SPD), Bundeswirtschafts- und Arbeitminister
- Dr. Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender der FDP-Fraktion
- Dr. Gesine Lötzsch (PDS), fraktionslos


Dieses Dokument drucken!
Dieses Dokument weiterempfehlen!
Zur Übersicht »Bundesrepublik Deutschland« zurück!
Die Navigationsleiste von documentArchiv.de laden!


Letzte Änderung: 03.03.2004
Copyright © 2003-2004 documentArchiv.de