Kommuniqué der Außen- und Verteidigungsminister der NATO über
den bedingten Beschluß zur Stationierung von Mittelstreckenwaffen
["NATO-Doppelbeschluß"]
vom 12. Dezember 1979
1.
Die Außen- und Verteidigungsminister trafen am 12. Dezember 1979 in
Brüssel zu einer Sondersitzung zusammen.
2.
Die Minister verwiesen auf das Gipfeltreffen vom Mai 1978, bei dem die
Regierungen ihre politische Entschlossenheit zum Ausdruck brachten, der Herausforderung zu
begegnen, die der fortdauernde intensive militärische Aufwuchs auf seiten des Warschauer
Paktes für ihre Sicherheit darstellt.
3.
Im Laufe der Jahre hat der Warschauer Pakt ein großes und ständig
weiterwachsendes Potential von Nuklearsystemen entwickelt, das Westeuropa unmittelbar
bedroht und eine strategische Bedeutung für das Bündnis in Europa hat. Diese Lage hat
sich innerhalb der letzten Jahre in besonderem Maße durch die sowjetischen Entscheidungen
verschärft, Programme zur substantiellen Modernisierung und Verstärkung ihrer
weitreichenden Nuklearsysteme durchzuführen. Insbesondere hat die Sowjetunion die SS
20-Rakete disloziert, die durch größere Treffgenauigkeit, Beweglichkeit und Reichweite
sowie durch die Ausrüstung mit Mehrfachsprengköpfen eine bedeutende Verbesserung
gegenüber früheren Systemen darstellt, und sie hat den "Backfire-Bomber"
eingeführt, der wesentlich leistungsfähiger ist als andere sowjetische Flugzeuge, die
bisher für kontinentalstrategische Aufgaben vorgesehen waren. Während die Sowjetunion in
diesem Zeitraum ihre Überlegenheit bei den nuklearen Mittelstreckensystemen (LRTNF)
sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgebaut hat, ist das entsprechende Potential des
Westens auf demselben Stand geblieben. Darüber hinaus veralten diese westlichen Systeme,
werden zunehmend verwundbarer und umfassen zudem keine landgestützen
LRTNF-Raketensysteme.
4.
Gleichzeitig hat die Sowjetunion auch ihre Nuklearsysteme kürzerer
Reichweite modernisiert und vermehrt und die Qualität ihrer konventionellen Streitkräfte
insgesamt bedeutend verbessert. Diese Entwicklungen fanden vor dem Hintergrund des
wachsenden Potentials der Sowjetunion im interkontinentalstrategischen Bereich und der
Herstellung der Parität mit den Vereinigten Staaten auf diesem Gebiet statt.
5.
Diese Entwicklungen haben im Bündnis ernste Besorgnis hervorgerufen, da
- falls sie fortdauern sollten - die sowjetische Überlegenheit bei den
Mittelstreckenwaffen die bei den interkontinentalen strategischen Systemen erzielte
Stabilität aushöhlen könnte. Durch diese Entwicklungen könnte auch die
Glaubwürdigkeit der Abschreckungsstrategie des Bündnisses dadurch in Zweifel gezogen
werden, daß die Lücke im Spektrum der dem Bündnis zur Verfügung stehenden nuklearen
Reaktionen auf eine Aggression stärker akzentuiert würde.
6.
Die Minister stellten fest, daß diese jüngsten Entwicklungen konkrete
Maßnahmen des Bündnisses erfordern, wenn die NATO-Strategie der flexiblen Reaktion
glaubwürdig bleiben soll. Nach intensiven Beratungen auch über alternative Ansätze und
deren Wert und nach Kenntnisnahme der Haltung bestimmter Bündnispartner, kamen die
Minister überein, daß dem Gesamtinteresse der Allianz am besten dadurch entsprochen
wird, daß die zwei parallelen und sich ergänzenden Ansätze: LRTNF-Modernisierung und
-Rüstungskontrolle verfolgt werden.
7.
Die Minister haben daher beschlossen, das LRTNF-Potential der NATO durch
die Dislozierung von amerikanischen bodengestützten Systemen in Europa zu modernisieren.
Diese Systeme umfassen 108 Abschußvorrichtungen für Pershing II, welche die derzeitigen
amerikanischen "Pershing Ia" ersetzen werden, und 464 bodengestützte
Marschflugkörper (GLCM). Sämtliche Systeme sind jeweils mit nur einem Gefechtskopf
ausgestattet. Alle Staaten, die zur Zeit an der integrierten Verteidigungsstruktur
beteiligt sind, werden an diesem Programm teilnehmen. Die Raketen werden in ausgewählten
Ländern stationiert und bestimmte Nebenkosten werden im Rahmen von bestehenden
Finanzierungsvereinbarungen der NATO gemeinsam getragen werden. Das Programm wird die
Bedeutung nuklearer Waffen für die NATO nicht erhöhen. In diesem Zusammenhang kamen die
Minister überein, daß als integraler Bestandteil der TNF-Modernisierung so bald wie
möglich 1 000 amerikanische nukleare Gefechtsköpfe aus Europa abgezogen werden.
Weiterhin beschlossen die Minister, daß die 572 LRTNF-Gefechtsköpfe innerhalb dieses
verminderten Bestands untergebracht werden sollen. Dies impliziert notwendigerweise eine
Gewichtsverlagerung mit der Folge, daß die Zahl der Gefechtsköpfe von Trägersystemen
anderer Typen und kürzerer Reichweite abnimmt. Zusätzlich haben die Minister mit
Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß die Nukleare Planungsgruppe (NPG) eine genaue
Untersuchung vornimmt über Art, Umfang und Grundlage der sich aus der LRTNF-Dislozierung
ergebenden Anpassungen und ihrer möglichen Auswirkungen auf die Ausgewogenheit von
Aufgaben und Systemen im gesamten nuklearen Arsenal der NATO. Diese Untersuchung wird
Grundlage eines substantiellen Berichts an die Minister der NPG im Herbst 1980 sein.
8.
Die Minister messen der Rüstungskontrolle als Beitrag zu einem
stabileren militärischen Kräfteverhältnis zwischen Ost und West und zur Förderung des
Entspannungsprozesses eine große Bedeutung bei. Dies spiegelt sich wider in einem breit
angelegten Spektrum von Initiativen, die im Bündnis geprüft werden mit dem Ziel, die
Weiterentwicklung von Rüstungskontrolle und Entspannung in den achtziger Jahren zu
fördern. Die Minister betrachten die Rüstungskontrolle als integralen Bestandteil der
Bemühungen des Bündnisses, die unverminderte Sicherheit seiner Mitgliedstaaten zu
gewährleisten und die strategische Lage zwischen Ost und West auf einem beiderseits
niedrigeren Rüstungsniveau stabiler, vorhersehbarer und beherrschbarer zu gestalten. In
dieser Hinsicht begrüßen sie den Beitrag, den der SALT II-Vertrag zur Erreichung dieser
Ziele leistet.
9.
Die Minister sind der Auffassung, daß auf
der Grundlage des mit SALT II erreichten und unter Berücksichtigung der die NATO
beunruhigenden Vergrößerung des sowjetischen LRTNF-Potentials nun auch bestimmte
amerikanische und sowjetische LRTNF in die Bemühungen einbezogen werden sollten, durch
Rüstungskontrolle ein stabileres umfassendes Gleichgewicht bei geringeren Beständen an
Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu erzielen. Dies würde frühere westliche Vorschläge
und die erst kürzlich geäußerte Bereitschaft des sowjetischen Staatspräsidenten
Breschnew aufnehmen, solche sowjetischen und amerikanischen Systeme in
Rüstungskontrollverhandlungen einzubeziehen. Die Minister unterstützen voll die als
Ergebnis von Beratungen im Bündnis getroffene Entscheidung der Vereinigten Staaten, über
Begrenzungen der LRTNF zu verhandeln und der Sowjetunion vorzuschlagen, so bald wie
möglich Verhandlungen auf der Grundlage der folgenden Leitlinien aufzunehmen, die das
Ergebnis intensiver Konsultationen innerhalb des Bündnisses sind: |
|
a) Jede künftige Begrenzung amerikanischer Systeme, die in erster Linie
für den Einsatz als TNF bestimmt sind, soll von einer entsprechenden Begrenzung
sowjetischer TNF begleitet sein.
b) Über Begrenzungen von amerikanischen und sowjetischen LRTNF soll Schritt für Schritt
bilateral im Rahmen von SALT III verhandelt werden.
c) Das unmittelbare Ziel dieser Verhandlungen soll die Vereinbarung von Begrenzungen für
amerikanische und sowjetische landgestützte LRTNF-Raketensysteme sein.
d) Jede vereinbarte Begrenzung dieser Systeme muß mit dem Grundsatz der Gleichheit
zwischen beiden Seiten vereinbar sein. Die Begrenzungen sollen daher in einer Form
vereinbart werden, die de jure Gleichheit sowohl für die Obergrenzen als auch für die
daraus resultierenden Rechte festlegt.
e) Jede vereinbarte Begrenzung muß angemessen verifizierbar sein. |
10.
Angesichts der besonderen Bedeutung dieser Verhandlungen für die
Sicherheit des Bündnisses insgesamt wird zur Unterstützung der amerikanischen
Verhandlungsbemühungen ein besonderes, hochrangiges Konsultationsgremium innerhalb des
Bündnisses gebildet. Dieses Gremium wird die Verhandlungen kontinuierlich begleiten und
den Außen- und Verteidigungsministern berichten. Die Minister werden die Entwicklung
dieser und anderer Rüstungskontrollverhandlungen bei ihren halbjährlichen Konferenzen
bewerten.
11.
Die Minister haben sich zu diesen beiden
parallel laufenden und komplementären Vorgehensweisen entschlossen, um einen durch den
sowjetischen TNF-Aufwuchs verursachten Rüstungswettlauf in Europa abzuwenden, dabei
jedoch die Funktionsfähigkeit der Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie der NATO
weiterhin zu erhalten und damit die Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten weiterhin zu
gewährleisten. |
|
a) Ein Modernisierungsbeschluß einschließlich einer verbindlichen
Festlegung auf Dislozierungen, ist erforderlich, um den Abschreckungs- und
Verteidigungsbedürfnissen der NATO gerecht zu werden, um in glaubwürdiger Weise auf die
einseitigen TNF-Dislozierungen der Sowjetunion zu reagieren und um das Fundament für
ernsthafte Verhandlungen über TNF zu schaffen.
b) Erfolgreiche Rüstungskontrolle, die den sowjetischen Aufwuchs begrenzt, kann die
Sicherheit des Bündnisses stärken, den Umfang des TNF-Bedarfs der NATO beeinflussen und
im Einklang mit der grundlegenden NATO-Politik von Abschreckung, Verteidigung und
Entspannung - wie sie im Harmel-Bericht niedergelegt wurde - Stabilität und Entspannung
in Europa fördern. Der TNF-Bedarf der NATO wird im Licht konkreter Verhandlungsergebnisse
geprüft werden.
|
|